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Kategorie: Artikel

Rezension

Schon der Anstoß zu der Monographie „Herrliche Schwere. Bildkonzepte der Herrlichkeit Gottes nach Kunstwerken von Richard Serra“ von Kristin Riepenhoff macht die Besonderheit dieser an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster im Jahr 2019 eingereichten Dissertation deutlich: eine unvorbereitete Begegnung der Autorin mit der Arbeit Circuit (1971/89) des zeitgenössischen US-amerikanischen Bildhauers Richard Serra. Circuit ist eine Rauminstallation in einem quaderförmigen Baukörper, bei der vier riesige Walzstahlplatten (je 354 x 796 x 3,2 cm), die auf ihren schmalen Längsseiten aufgerichtet sind, aus den Wandecken aufeinander zulaufen. Überraschend und zugleich herausfordernd ist die aus dieser Begegnung erwachsene Fragestellung, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt: „Wie können tonnenschwere Stahlplatten zeitgenössischer Kunst göttliche Herrlichkeit wahrnehmbar und beschreibbar machen?“ Die Autorin löst die inhärente Spannung dieser Frage durch eine Analyse der im Alten und Neuen Testament gängigen Begrifflichkeiten kābôd/dóxa sowie der jüdisch-christlichen Bildtraditionen und durch eine Beschreibung ausgewählter Kunstwerke Serras auf, indem sie ihnen das Prinzip der „Schwere“ zuordnet. Riepenhoff führt in ihrer Arbeit vor, wie das Verknüpfen der Wirkung zeitgenössischer Kunstwerke auf die Rezipientin mit theologischen Reflexionen zu neuen, bildtheologisch fundierten Beobachtungen führt, die das Erscheinen Gottes erschließen können. Sie stellt in ihrer Arbeit dar, dass bereits im Alten Testament der hebräische Begriff kābôd die Konnotationen der physischen Schwere bzw. sozialer Gewichtigkeit beinhaltet, die sich über das griechische dóxa in der Septuaginta und dem Neuen Testament sowie am lateinischen gloria bis heute nachzeichnen lassen. Das Erfassen göttlicher Herrlichkeit als einem bildlichen Phänomen durchzieht die Konzeption der vorliegenden Arbeit. Die Autorin macht dabei deutlich, dass neben dem in der Forschung bislang vornehmlich untersuchten Phänomen des Erscheinens im Licht auch die Schwere als ein Erscheinungsmodus der Herrlichkeit in den Blick zu nehmen ist. „Schwere“ kann damit eine Möglichkeit bieten, dass sich der unsichtbare und prinzipiell entzogene Gott dem Menschen wahrnehmbar und auch beschreibbar macht. Dass und wie dies funktioniert, erörtert Riepenhoff eindrucksvoll in den vier zentralen Teilen ihrer Dissertation.

Die Autorin stellt zunächst (Kapitel II, 11–85) den Bildhauer Richard Serra, seine Biographie und die Grundlinien seines Œuvres vor, um dann ausgewählte Werke, die mit Schwere und Gewicht experimentieren, detailliert zu beschreiben und zu untersuchen. Dabei gehört es zu der Methodik dieses Kapitels, dass die Autorin bei der Beschreibung die Rolle einer Perzipientin einnimmt, die in ihrer Betrachtung durch Bewegung selbst zu einem erweiterten Subjekt des Werkes wird (13). Riepenhoff zeigt, dass Serra Produkte der Schwerindustrie in die Kunstwelt überträgt, um Gewicht, Druck, Masse und Statik des Materials wahrnehmbar zu machen. Zugleich zieht sich die Gestaltung von Raum – insbesondere in seinen paradoxen Strukturen von Unten und Oben, Innen und Außen, Gegeneinander und Ineinander – durch sein Schaffen, die in seiner Komplexität nicht durch einen festen Betrachtungspunkt, sondern vielmehr durch das Begehen bzw. Umlaufen der Arbeiten erfasst werden kann. Riepenhoff setzt sich dann mit den von ihr ausgewählten Werken auseinander, im Einzelnen sind dies: To Lift (1967), Circuit (1972/89), Terminal (1977), Berlin Block (for Charlie Chaplin) (1977), The Matter of Time (1994–2005), Torqued Ellipse (2003–04) und Torqued Spiral (Closed Open Closed Open Closed) (2003). Bis auf To Lift, das aus vulkanisiertem Gummi gefertigt ist, handelt es sich um Stahlprodukte, die sich über ein künstlerisches Wirken von fast 40 Jahren erstrecken und die verschiedene Werkarten bzw. -gruppen Serras präsentieren.

Riepenhoff beschreibt eingängig, wie schon in dem frühen Werk Lift der Umgang des Künstlers mit Schwere und paradoxen Raumerfahrungen deutlich wird: Aus einem flächigen Werkstück mit exakt geraden Kantenlinien sowie planer Ober- und Unterseite wird durch das Anheben an einem Punkt eine plastische Arbeit, die sich selbst durch die Kräftebalance in ihrer Form hält (26–34). Circuit, das mit seinen 354 cm hohen Stahlplatten, die auf einer 3,2 cm schmalen und 796 cm langen Kante stehen, nur durch die Einlassung in die Gebäudeecken Stabilität erlangt, zieht die Perzipientin unausweichlich in ihr Kräftefeld. Riepenhoff beschreibt eingängig die physisch und psychisch fordernde Situation bei der Begehung dieses Werkes, den Eindruck von Horizontalität und Distanz, der sich in Vertikalität und Nähe wandelt, ebenso wie das Gefühl der Enge, das sich in Offenheit verflüchtigt. Trotz der überaus klaren Struktur des Werkes wird diese in der Bewegung immer wieder in Frage gestellt: Die Wahrnehmung des Ganzen wird geradezu unmöglich. So erzeugt Circuit beim Gehen ein Schwerefeld, das eine Auseinandersetzung der Perzipientin nicht nur mit dem Kunstwerk, sondern auch mit sich selbst hervorruft (34–44). Eine ähnliche Erfahrung beschreibt Riepenhoff bei der Umrundung von Terminal (1977), auch hier besteht die Schwierigkeit, beim Rundgang um das Werk einen Überblick über die Gestalt zu bekommen: Der eigentlich einfachen Grundstruktur, die erst beim Betreten des Inneren erfasst wird, stellt sich dieser erste, komplexe Eindruck kontrastiv entgegen. Terminal ist für die vorliegende Arbeit ein zentrales Kunstwerk, da es zum einen Schwere als etwas wahrnehmbar macht, das durch den Akt des Aufrichtens erzeugt und durch die enorme Höhe der schweren Platten gesteigert wird, und da es zum anderen das Erfassen von Strukturen und gleichzeitige Entziehen dieser erlebbar macht (45–59). Im Gegensatz dazu gewinnt die Arbeit Berlin Block (for Charlie Chaplin) (1977) ihr energetisches Potenzial durch Absenkung. Riepenhoff verdeutlicht, wie durch Neigung und Drehung des Kunstwerks ein Spannungsfeld zwischen nahegelegenem Gebäude und Skulptur erzeugt wird (59–69). Die Wirkung von Schwere im Raum konstatiert die Autorin in prägnanter Weise auch bei Torqued Spiral (Closed Open Closed Open Closed) (2003). Sie beschreibt eindrucksvoll wie die Phänomene Desorientierung und Schwere durch das Erzeugen von Enge und Weite sowie Licht und Verdunkelung beim Durchschreiten des Kunstwerks erreicht werden (69–85).

Im zweiten Teil ihrer Arbeit (Kapitel III, 87–195) entwickelt Riepenhoff die theologische Frage nach der Herrlichkeit Gottes auf der Grundlage biblischer Schriftzeugnisse. Sie erörtert, wie sich Gott im biblischen Zeugnis unter den Bedingungen menschlichen Sehens und Wahrnehmens in seiner Herrlichkeit zur Erscheinung bringt. Sie legt ihren Ausführungen dabei die These zugrunde, dass die Herrlichkeit Gottes biblisch als Phänomen präsentiert wird, das durch spannungsvolle Bilder, Bildformen und Bildkonzepte erzeugt wird, in denen sich der unsichtbare Gott den Menschen zeigt, ohne dabei ganz zum Gegenstand von Anschauung zu werden (87). Riepenhoff stellt zunächst Konzepte vor, die aus der Umwelt des Alten Orients erwachsen und alttestamentlich mit dem kābôd-Begriff verknüpft werden. Sie macht dabei deutlich, dass kābôd vielfältige Konnotationen hat, in die auch differente Phänomene von physischer Schwere und sozialem Gewicht eingewoben sind. Wie diese dann in einem religiös-jüdischen Kontext in Ezechiels Thronwagenvision ihren zentralen Ausdruck finden, in der die Spannung zwischen der prinzipiellen Unsichtbarkeit und Entzogenheit Gottes und zugleich das Streben des Menschen, die göttliche Präsenz zu beschreiben, bildlich besonders reich ausgestaltet wird, kann Riepenhoff überzeugend aufbereiten. Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, fokussiert Riepenhoff auf den Begriff kābôd JHWH und ordnet ihm drei Motivkreise zu: Wetter- und Naturphänomene (101–107), Lichterscheinungen (108–113) und JHWHs Königtum (113–127), in denen die Auflösung von Grenzen zwischen Innen und Außen sowie Tempel und Welt bereits angelegt ist. In ihrer Analyse von Ez 1 stellt Riepenhoff dann vor, wie in der Beschreibung Ezechiels eine „konkret-wahrnehmbare Manifestation göttlicher Präsenz in Licht- und Raumphänomenen“ (141) entstanden ist, deren besondere Pointe darin liegt, dass „gerade mithilfe von Bildern eine bildliche Gestalt Gottes verschleiert werden soll“ (145). Riepenhoff kann auf der Grundlage ihrer sorgfältigen Textuntersuchung überzeugend zusammenfassen, dass mittels der Phänomene Licht und Raum die Paradoxa Enthüllen – Verbergen, Gestalthaftigkeit – Gestaltlosigkeit sowie Stabilitas – Mobilitas, Nähe – Distanz zum Ausdruck gebracht werden, durch die Ezechiel den kābôd JHWH erkennen und wiedererkennen kann.

Im nächsten Schritt geht Riepenhoff der Frage nach, wie ein bildliches dóxa-Verständnis des Neuen Testaments an die zuvor entwickelten Bildformen des Alten Testaments anknüpft bzw. sich von ihnen unterscheidet (155–195). Dabei bringt sie die Problematik mit ihrer Frage „Wie lässt sich das Erscheinen Gottes in seiner Herrlichkeit denken, wenn der himmlische König Mensch wird und sich auf Erden zugänglich macht?“ (156) oder kurz „Gott wird Mensch“ (165) ganz klar auf den Punkt. Um die Lösung dieses Dilemmas zu erfassen, konzentriert sie ihre Analyse v. a. auf das Johannesevangelium und zeigt darin bildlich-räumliche Strukturen auf, durch welche die göttliche Herrlichkeit gerade im erniedrigenden Kreuzestod zur Anschauung und Wahrnehmbarkeit kommt (164–195). Sie macht dies daran fest, dass Johannes die Rede von der Herrlichkeit bereits an die Passion knüpft – also nicht erst im Blick auf die Auferstehung entwickelt – und mit dem konkret sichtbaren Kreuz verbindet. Dabei kann Riepenhoff textbasiert nachzeichnen, wie das Kreuz als bildlich-räumlich konzipierter Ort der Offenbarung göttlicher Herrlichkeit in einem Zusammenhang mit alttestamtlichen Bildkonzepten im Kontext des kābôd JHWH steht, sie erkennt insbesondere in der in Num 21,8 beschriebenen Schlangenstandarte ein Vorbild für das Bildkonzept Kreuz. Ergiebig ist in diesem Zusammenhang ihre Beobachtung, dass die Grenze zwischen Himmel und Erde nicht wie bei den alttestamentlichen Erscheinungen des kābôd JHWH in einer Abwärtsbewegung (von oben nach unten) durchbrochen wird, sondern in einer Aufwärtsbewegung.

Nachdem Riepenhoff die biblischen Begriffe kābôd und dóxa im Hinblick auf bildlich-räumliche Konzepte des Ineinanderfließens von himmlischer und irdischer Sphäre auf der Grundlage von ausgewählten Textstellen nachgezeichnet hat, lenkt sie in Kapitel IV (197–306) ihren Blick auf Bild-, Kunst- und Bauwerke. Orientiert an den zuvor entwickelten biblischen Konzepten der Erhöhung am Kreuz und des Thronwagens, untersucht sie dazu zunächst Bildwerke der frühchristlichen Buchmalerei sowie Kunstwerke des italienischen bzw. römischen Barock, um so zu prüfen, ob die zuvor in den Texten identifizierten Bildformen der Schwere und des Lichts hierin ebenso relevant für die Darstellung der göttlichen Herrlichkeit sind (199). Sie wählt als Grundlage dieser Untersuchung zwei Bildwerke der Buchmalerei aus dem syrischen Rabula-Evangeliar (um 586 n. Chr.) und eine Miniatur aus der zwölfbändigen topographia cristiana des Kosmas Indikopleustes (9. Jh. n. Chr.). Riepenhoff beschreibt zunächst die Kreuzigungsminiatur des Rabula Evangeliars ausführlich (204–210), und beobachtet, dass darin der Moment des Übergangs zwischen dem irdischen Leben Jesu Christi und seiner himmlischen Herrschaft sowohl auf der narrativen Ebene nachgezeichnet als auch durch formal-strukturelle Strategien der Rauminszenierung präsentiert wird (210f.). Auch das zweite von Riepenhoff in diesem Kapitel untersuchte Bildwerk, ascensio, ist dem Rabula Evangeliar entnommen. Auf der Grundlage einer aufmerksamen Beschreibung erörtert sie, wie die Sichtbarkeit Gottes in seiner Herrlichkeit hier ins Bild gesetzt wird. Dabei identifiziert sie die Gloriole auf dem Thronwagen als zentrales Bildmerkmal: Die blaue Lichtumgebung wird zum Ort der himmlischen Sphäre stilisiert, in die Christus im Habitus eines römischen Imperators eingefügt ist, und sich im Übergang zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit befindet. Die zusammenfassende Feststellung von Riepenhoff, dass in ascensio die alttestamentliche Thronwagenvision mit der neutestamentlichen Vorstellung von der Himmelfahrt Christi bildlich verbunden wird (217), ist durch die detaillierte Betrachtung und eine wohl gesetzte Leserführung gut nachvollziehbar und einleuchtend. Um das Motiv der Himmelfahrt/Himmelsreise zeitgeschichtlich einzusortieren, fügt Riepenhoff einen Exkurs jüdisch-mystischer Himmelsreisen und Aufstiegsapokalypsen an (220–243). An ausgewählten Textbeispielen führt sie vor, wie in diesem Umfeld bereits die Sphäre des göttlichen Throns als Übergangsbereich vorgestellt wird, an dem das Sehen der königlichen Erscheinung Gottes für den Menschen gerade noch zu ertragen ist (237). Die weitere bildliche, christliche Entwicklung des Himmelfahrtmotivs stellt Riepenhoff anhand der sogenannten Vatikanischen Kosmas Handschrift aus der topographia christiana vor (243–246 n. Chr.). In dieser werden die Motive göttlicher Thronwagen und Gloriole neu kontextualisiert, indem sie nicht mehr den Moment des Entzugs präsentieren, sondern zu einer Szenerie statisch, unsichtbaren Thronens im Himmel werden. Im Vergleich zeigt Riepenhoff geschickt auf, wie die Gloriole in ascensio die Frage nach dem Wohin darstellt, in der Kosmas Handschrift jedoch die Frage nach dem Wo verbildlicht.

Nun vollzieht Riepenhoff einen recht großen Zeitensprung vom frühen Christentum in das Zeitalter des Barock. Sie begründet diesen damit, dass das Thema der erscheinenden Herrlichkeit Gottes nach den frühchristlich eingeführten Bildtypen erst wieder im Barock entscheidend entwickelt wurde. Dabei belegt Riepenhoff, wie nun die Glorie zum Bildprinzip wird, um die Erscheinung göttlicher Herrlichkeit und ihre Wahrnehmbarkeit durch den Menschen darzustellen. Die bildliche Darstellung der Glorie in Raffaels Vision des Ezechiel sieht Riepenhoff als zentrale Neuerung (249): Der Himmel öffnet sich und goldenes Licht wird sichtbar, das den Raum erfüllt. Raffael ersetzt somit die klar umrissene Gloriole durch lichtdurchflutete Wolken, die auf die Erde strahlen. Nachdem Riepenhoff mittels des ausgewählten Bildes eindrücklich aufgezeigt hat, dass die Herrlichkeit Gottes als Lichtphänomen mit Raffael zum maßgeblichen Bildprinzip der barocken Kunst wurde (251), beobachtet sie die weitere Ausgestaltung der Glorie an Tizians La Gloria (1551–1554), Andrea Pozzos Deckenfresko im Langhaus von Sant’Ignazio in Rom sowie Francesco Borrominis San Carlo alle Quattro Fontane in Rom. Sie verfolgt dabei die These, dass die christliche Tradition der bildlichen Darstellung der Erscheinung göttlicher Herrlichkeit im Barock zu einem Repertoire von Bildformen und -strukturen anwächst, das sich in räumlichen sowie lichthaften Aspekten konzentriert (252).

Durch ihre scharfsinnige Analyse gelingt es Riepenhoff, in Tizians La Gloria sowohl die Trennung der göttlichen Sphäre vom darunterliegenden himmlischen Bereich und der irdischen Landschaft am unteren Bildrand nachzuweisen, als auch aufzuzeigen, wie diese Ebenen bildstrukturell miteinander verwoben sind und sie dadurch die Ausdrucksformen göttlicher Herrlichkeit – Schwere und Licht – nicht nur darstellen, sondern in Spannung halten (252–262). Das Glorienlicht wird von der Deckenmalerei des Barock als eine Art „Wolkenröhre“ ausgebildet, die den Betrachtenden geradezu in die Höhe zieht. Diese Raumillusion erfährt in dem Deckenfresko von Sant‘Ignazio einen Höhepunkt (265). Faszinierend ist in diesem Teil der Arbeit ein Perspektivwechsel, der Riepenhoff von der Betrachterin zur Beobachterin werden lässt, die sich durch den Kirchenraum bewegt und so in das räumliche Geschehen der Glorie eingebunden wird. Sie kann auf diese Weise sehr anschaulich darstellen, wie die Glorie in dem Langhausfresko als Bildprinzip eingesetzt wird, das überirdische, himmlische und göttliche Erscheinungen zu einer bewegten Bildlichkeit zwischen Oben und Unten formiert, die der Perzipientin zugleich zugänglich gemacht als auch entzogen sind (306). Welche Konsequenz es hat, die Glorie von der Bildmotivik in die Bildstruktur zu überführen, macht Riepenhoff abschließend an Francesco Borrominis San Carlo alle Quattro Fontane deutlich. Dieser repräsentiert einen bilderarmen Typus barocker Sakralbauten in Rom und macht somit schnell deutlich, dass hier der Raum an sich thematisiert wird. Anhand des in diesem Teil der Arbeit umfangreichen Bildmaterials (Abb. 16–22) wird augenscheinlich, dass Borromini formal gegensätzliche Strukturen verwendet und sie zueinander in Beziehung setzt: konvexe und konkave Schwünge, aufwärts und abwärts verlaufende Biegungen, Vorsprünge und Aushöhlungen (285–306). Auch hier zeigt Riepenhoff, wie durch die Bewegung im Raum erfahrbar wird, dass Borromini Kreis und Ellipse so ausformt, dass sie den statischen Raum in Bewegung versetzen. Von hier aus schlägt Riepenhoff den Bogen zurück zu Serra, der mit seinen Torques Pieces dieses formale Prinzip Borrominis aufgegriffen hat.

Riepenhoff schließt ihre Arbeit zusammenfassend mit fünf Thesen (308–322), die an dieser Stelle wiedergegeben werden, um zum einen das Potenzial der Arbeit zu verdeutlichen und zum anderen Lust auf das Lesen dieser exzellenten Monographie zu machen.

These 1) Das Erscheinen der Herrlichkeit Gottes in physischer Schwere ist vorstellbar, insofern die Herrlichkeit Gottes als körperlich konstituiertes Phänomen und Schwere als dessen Eigenschaft verstanden werden.

These 2) Die Schwere, in der sich Gott in seiner Herrlichkeit wahrnehmbar macht, ereignet sich als dynamisches Geschehen. Schwere ist dabei mit Serra a) als raumkonstituierendes Geschehen, b) als räumliches Geschehen, das sich auf einen Ort bezieht, und c) als schwellenbildendes Geschehen zwischen räumlichen Strukturen zu verstehen.

These 3) Die Schwere als Erscheinung göttlicher Herrlichkeit tritt – je nach Kontext – in unterschiedlichen Formen auf, die ihre unmittelbare und vehemente Wirkung durch die der Schwere eingeschriebenen Formen von Labilität beziehen.

These 4) Die Gestalt, in der sich die Herrlichkeit Gottes als Schwere präsentiert, legt sich dem Menschen in ihrer inneren Logik anschaulich dar, ohne von der menschlichen Wahrnehmung einholbar zu sein.

These 5) Gottes herrliches Erscheinen in Schwere ist aus sich heraus ausgerichtet auf den Menschen. In seiner Unmittelbarkeit fordert es eine umfassende Aufmerksamkeit ein, die den ganzen Menschen auf eine Weise erfasst und involviert, durch die seine eigene Wahrnehmung zu Inhalt und Thema des Erscheinenden wird.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Abbildungsverzeichnis mit ausführlichen bildrechtlichen Angaben beschließen die Arbeit.

Riepenhoff führt in ihrer Arbeit sowohl analytisch als auch innovativ vor, wie mit einem interdisziplinären, bildtheologischen Ansatz die Herrlichkeit Gottes neu untersucht und erfasst werden kann. Ausgehend von den gewaltigen Werken Richard Serras und auf der Basis von biblischen Texten erfasst sie das Auftreten göttlicher Herrlichkeit als Phänomen der Schwere und kann so die bereits alttestamentlich angelegten Konzepte vom Sichtbar- und Wahrnehmbarwerden des kābôd JHWH neu konzeptionalisieren. Sie zeigt an biblischen Texten sowie an überzeugend ausgewählten Beispielen jüdischer und christlicher Bildtraditionen, dass neben den Bildformen des Lichts vor allem räumliche Strukturen eine zentrale Rolle spielen, um die Herrlichkeit Gottes im Spannungsfeld von Transzendenz und Visualität darzustellen. Vor diesem Hintergrund kann sie als physisch involvierte Perzipientin die Werke Serras als Ausdruck „Herrlicher Schwere“ beschreiben und neu wahrnehmbar machen.

Insgesamt ist dies eine Arbeit, die das Potenzial der bildtheologischen Forschung eindrucksvoll vorführt und sicherlich ein Impuls für weitere derartige Auseinandersetzungen ist.

Ist Kunst Religion?

„IST Kunst Religion?“ Der Satz – eine Frage – ist so normativ und so ausschließlich, dass man beinahe in Panik gerät, wie man denn antworten soll – ob man emphatisch „Nein!“ ausrufen soll, oder mit geschwellter Brust auch „Ja!“  Der Satz, als Frage, ist so kurz, dass man zudem geneigt ist, seine Satzglieder auch zu vertauschen: „Ist RELIGION Kunst?“ Oder, der Betonung unserer Themenstellung entsprechend: „Ist Religion KUNST?“ Oder schließlich „IST Religion Kunst? Das käme dann eben einer Behauptung gleich, die die Frage überhaupt erst ausgelöst haben würde: „Religion ist Kunst.“ Und, im Kommutativgesetz für deutsche Sätze in der ersten Variante: „Kunst ist Religion.“

„Kunst ist Religion.“

„Religion ist Kunst.“

Die beiden schlichten Sätze, meine Damen und Herren, möchte ich mit Ihnen in diesem Festvortrag gemeinsam erörtern, natürlich wissend, dass die meisten von Ihnen diesen Sätzen nicht zustimmen: Kunst ist nicht Religion. Religion ist auch nicht Kunst. Aber die Veranstaltenden haben einen Referenten für diesen Festvortrag aus dem Süden geholt, also aus einem Milieu, wo man kulturell bedingt eher synthetisch denkt, um es freundlich zu formulieren, also von einem Teil Europas, den manche noch immer „Kakanien“ nennen und der vor allem mit dem Barock zu verbinden ist, (wenngleich einem, verglichen mit hier, einem sehr stuck- und bilderreichen Barock), und der eben auch das verbindende Glied zu diesem Kirchenraum hier ist, dieser dreischiffigen, kreuzgratgewölbten „Basilika“ (kunsthistorisch, nicht kirchenrechtlich gesprochen) mit zentraler, oktogonaler Kuppel und ihrer aufgesetzten Laterne. 60 Jahre nach dem Abschluss des „Westfälischen Friedens“ hier in dieser sogenannten Friedensstadt Münster begonnen, bildet die hiesige Dominikanerkirche – nach Entwürfen des Architekten Lambert Friedrich von Corfey als Teil einer Klosteranlage erbaut – „ein herausragendes Beispiel des barocken römisch-französischen Hochstils“, (so lese ich es auf der Homepage, aber später auch in allen beschreibenden Texten zu diesem Raum, aber vor allem zu diesem Kunstwerk, das seit 2017 sich hier befindet).

Schmale, querhausartige Seitenräume begleiten die Kuppel. Dieser Raum hat eine Längsausrichtung nach Osten hin, am Ende ist seltsamerweise eine Wand, hinter der sich ein „entweihter Hochaltar“ befindet (wie das sprachlich so merkwürdig im begleitenden Folder ausgedrückt wurde).

Ich stocke beim Wort „entweiht…“

Ich weiß nicht, ob es wieder eine jener feinen Sprachdifferenzen zwischen der deutschen und österreichischen Sprache ist – „entweiht“ würde man in Österreich zu einem profanierten Hochaltar jedenfalls nicht sagen. „Entweihung“ hat in meiner Sprachverwendung jedenfalls den Charakter des Frevels, auch der Gewalt.

Aber vielleicht trifft die vielleicht falsche Bezeichnung doch den Kern der Sache, um die sich auseinanderzusetzen wir heute auch zusammengekommen sind. Denn „Entweihung“ löst ja einfach Fragen aus: „WER hat hier WEN oder WAS entweiht?“

Zwischen der kunsthistorischen und theologischen Begrifflichkeit von „Entweihung“ oder „Weihe“ gibt es keine so klare Deckungsgleichheit, wie wir vielleicht meinen. Das gilt wohl auch für das Wort: „Kirche“. Ist dieser Raum jetzt eine Dominikanerkirche, wo doch seit 1811 keine Dominikaner mehr da sind? Bleibt sie dennoch die „Dominikanerkirche Münster“ (also eine Ortsbezeichnung) oder ist sie schlicht eine Filiale der Kunsthalle Münster mit einem neuerdings großen Kunstwerk? Die derzeitige Leiterin der Kunsthalle und damit rechtlich derzeit auch Hausherrin, Merle Radtke, hat da jedenfalls einen eher nüchternen Kirchenbegriff, wenn sie Gerhard Richters Kunstwerk auf der Webseite einführt:

„Das Werk in Münster ist neben dem Fenster im Kölner Dom (2007) Richters zweite Arbeit, die in einer Kirche realisiert wurde – in diesem Fall einer profanierten.“1Radtke, Merle: Gerhard Richter, Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel, 2018, 51°57’43.236″N 7°37’50.7″E (https://www.kunsthallemuenster.de/de/sammlung/gerhard-richter-zwei-graue-doppelspiegel-fur-ein-p/, abgerufen am: 27.10.2023).

Das Wort „Kirche“ scheint zwar selbst bei einem Künstler wie Gerhard Richter hervorhebenswert zu sein, wenngleich nicht ganz klar zum Ausdruck gebracht ist, wer hier wen adelt; jedenfalls geht es, bezogen auf unser Thema an diesem Abend, um „diesen Fall“: eine profanierte Kirche. Auch wenn diese „Kirche“ diesen entsakralisierenden Akt bereits zwei Mal hinter sich hat – 1811 nach den „Wirren der Säkularisation“, also nur rund 80 Jahre nach ihrer Fertigstellung, und 2017 – auf Betreiben der Stadt Münster, um ausgerechnet dieses Kunstwerk hierher zu bekommen –; die Bezeichnung „Kirche“ ist dann doch geblieben. Frage: Wer steht hinter einer Profanierung, wer ordnet sie an? Die Stadt? Napoleon? Der Bischof? Die schwindende Gemeinde? Die fehlenden Erhaltungskosten oder die Konzepte für einen neuen Besucher*innenboom für ein attraktiveres Heiligtum als es das bisherige war?

Für letztere Sichtweise hat man jedenfalls die Vorzüge zu benennen, denn seine Architektur hat dann „ein neues Heiligtum“ zu bündeln: Der Raum hier hat nämlich auch den Charakter eines Zentralraums. Überall finden wir zudem den Goldenen Schnitt, in den Proportionen der Grundriss- und Höhengliederung, in den einzelnen Jochen. Vollendete Sakral-Architektur. Aber vielleicht ist das doch zu viel der architektonisch-sakralen Würdigung? In der Beschlussvorlage für die Stadt Münster mit dem Betreff: „Dauerhafte Installation eines Kunstwerkes von Gerhard Richter in der Dominikanerkirche“ vom 27.9.2017, also jenem Dokument, das zur Annahme dieses Kunstwerks und der damit einhergehenden Verpflichtung geführt hat, diesen Raum nicht nur zur Verfügung zu stellen, sondern auch entsprechend zu adaptieren, lese ich nach der räumlich-architektonischen Würdigung der Dominikanerkirche nämlich einen für mich doch ziemlich verräterischen Satz:

„Trotz der basilikalen Gliederung wirkt der Innenraum dadurch [gemeint war die reine Architektur ohne Bilder, der goldene Schnitt, die entsprechenden Proportionen] nicht kirchlich, sondern erinnert eher an Renaissance-Bauten wie die Bibliotheca Laurenziana in Florenz. Die räumliche Komposition ist bei aller Schlichtheit der Architekturelemente von besonderer Ausgewogenheit und wirkt zugleich bewegt und anregend. Mit diesen Merkmalen ist die Dominikanerkirche prädestiniert für die Aufnahme des Richterschen Kunstwerks.“2Dauerhafte Installation eines Kunstwerkes von Gerhard Richter in der Dominikanerkirche (Öffentliche Beschlussvorlage der Stadt Münster, Vorlagen-Nr.: V/0812/2017), 5.

Aufnahme! Die Intention dieser Architektur, so liest man, hat Jahrhunderte darauf gewartet, ein derartiges Kunstwerk aufzunehmen! Rückfrage an den Autor der Beschlussvorlage: Was wirkt an einer Kirche eigentlich kirchlich – und was nicht. Und man hätte auch mehr von der dem Künstler unterstellten Motivationspsychologie gewusst:

„An einem vormals sakralen Ort naturwissenschaftliche Evidenz anzusiedeln, vermag für Gerhard Richter einen besonderen Anreiz darstellen.“3Ebd., 3.

Von Gerhard Richter, von dem höchst unterschiedliche Aussagen zu Religion und Kirche stammen, sind eigentlich in den letzten Jahrzehnten eher kirchensympathische Äußerungen berichtet worden. Sogar sein „letztes durchnummeriertes Werk“, ein Glasfensterentwurf für die Benediktinerabtei Tholey im Saarland ging sozusagen „an die Kirche“.

Anders also die Beschlussvorlage. Liest man derartige Begründungen, so ist es umgekehrt kein Wunder, dass dieses Kunstwerk nach seiner Werkvorstellung auch scharf kritisiert wurde: „Die Wissenschaft will über die Kirche triumphieren.“4Tück, Jan Heiner: „Die Wissenschaft will über die Kirche triumphieren. Die Dominikanerkirche in Münster soll ein Museum werden. Doch ein Geschenk von Maler Gerhard Richter sorgt für Streit“, in: NZZ, 29.12.2017. So war es vorab in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu lesen. Das klingt nach Kampfrhetorik, nach Sieg und Niederlage, Triumph auf der einen und Schmach auf der anderen Seite.

So ist es angemessen, ja fast naheliegend, die Frage der Beerbung öffentlich zu thematisieren, jener von Religion durch Kunst nämlich, die hier freilich auch jener von religiösen Wahrheiten und naturwissenschaftlichen Wahrheiten im Schlepptau hat.

Es zeigen sich offensichtliche Gräben – jene von Naturwissenschaft und Glaube, von Wissenschaftsevidenz und theologischer Reflexion, von Kunst und Religion, von Bild und Beweis. Allein diese kleinen Beobachtungen zeigen, warum eine öffentliche Auseinandersetzung dazu eigentlich notwendig ist.

„IST Kunst Religion?“ „IST Religion Kunst?“

Im Plural gesprochen sind die gespiegelten Sätze freilich auch deshalb, weil der eigentliche Anlass für diese Veranstaltung nicht Gerhard Richters Pendel ist, sondern das 25-jährige Bestehen der ACHRIBI, also der „Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik“ ist. Die nach den vielen Jahren der Leitung von Prof. Reinhard Hoeps, der von 1993 bis 2021 Professor für systematische Theologie an der hiesigen Katholisch-Theologischen Fakultät der Welt war, nun in der Leitung von Prof. Norbert Köster liegt. Zudem ist es auch das fünfjährige Bestehen des „Vereins für Bildtheologie“, der sich nach der Emeritierung von Hoeps aus dem Kreis ehemals Studierender herausgebildet hat, das wir heute begehen.

Und doch besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem berühmten Kunstwerk und den beiden Jubiläen, auch wenn beide in ihrer Geschichte bislang nichts, rein gar nichts, zu tun hatten. Diesen inneren Zusammenhang möchte ich über diesen Festvortrag legen.

Denn DASS es auf einer Universität eine institutionelle Behauptung für die Bilderfrage gibt, ist die große Errungenschaft in Münster. Die ACHRIBI erforscht nicht nur das kulturelle Erbe des Christentums (aktuell mit einem besonders großen Projekt), sondern hat auch die Gegenwartsdebatte im Blick – um den Status von Kunst, von Religion im Modus des Visuellen. Sie hat dabei in der reflexiven Betrachtung fundiertes Wissen von Religion und Kunst einzubringen. Das ist, anders formuliert, ihre Aufgabe, ihr „mission statement“. Eine derartig geartete Bildtheologie wird auch noch dann von großer Relevanz sein, wenn Kirchen im großen Stil profaniert werden. Sie ist also auch in einer „nachchristlichen Epoche“ systemrelevanter für eine nachkommende Generation, der das Wissen um das Christentum schlicht abhanden gekommen ist.

Und es ist auch angemessen, nein, verführerisch, trotz der akademischen Architektur dieses Abendprogramms, mit einer kleinen Anekdote zu beginnen: Ich erinnere mich nämlich noch, als die ACHRIBI gegründet wurde. Ich nahm diese damals aus dem – verglichen mit Graz – gar nicht so fernen Köln wahr, wo ich ein kleines Assistentenzimmer in der Clarenbachstraße 4 nutzen durfte – oder sollte –, das aber für mich so unvorstellbar hässlich war, dass ich es gar nicht wirklich bezog, wie mein damaliger Chef, Prof. Alex Stock, immer wieder auch anmerkte. Doch dort hatte eben dieser Alex Stock kurze Zeit vor der Gründung der ACHRIBI eine „Bildtheologische Arbeitsstelle der Universität zu Köln“ gegründet. Eine Auseinandersetzung mit Kunst, Bild und Theologie zum Gegenstand einer institutionellen Absicherung im Range einer Universität werden zu lassen war damals neu im universitären Sektor, nicht nur in Köln oder Münster, sondern im deutschsprachigen Raum überhaupt. Bilder hatte die Theologie, wenn überhaupt, bis dahin nur im Bereich der Religionspädagogik wahrgenommen und akzeptiert. Die systematische Theologie, mehr aber noch die Dogmatik glaubte jedenfalls eindeutig ohne Bilder auszukommen. Von einem „Iconic Turn“ hatte die Theologie damals noch sehr wenig wahrgenommen.

Die „Bildtheologische Arbeitsstelle an der Universität zu Köln“ wurde nach dem Tod von Alex Stock, der bis zum Lebensende an seinem Mammutprojekt einer 11-bändigen „Poetischen Dogmatik“ arbeitete, im Jahre 2016 mangels fehlender Nachfolge aufgelöst; die in jahrzehntelanger Arbeit gesammelten Aufsätze kamen entweder hierher nach Münster oder, wie auch die gesamte Diathek, in das von mir gegründete Museum für Gegenwart, Kunst und Religion nach Graz. Sie, die nicht mehr existiert, und die vor 25 Jahren gegründete „Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik“ waren damals junge, mutige Pflänzchen im theologischen Wissenschaftsbetrieb, wobei freilich nur die zweite, von Reinhard Hoeps gegründete, wirkliche Wachstumspotentiale hatte. Eine gemeinsame wissenschaftliche Reihe: „IKON. Bild+Theologie“ im damaligen Ferdinand Schoeningh-Verlag, wurde gegründet; viele Bände sind in dieser Reihe erschienen.

Jedenfalls war damals im „inner circle“ das Gefühl des Neuen, das die Theologie im deutschsprachigen Raum mit einem neuen Akzent versehen wollte. Und, auch das war klar: die ACHRIBI war zwar in Münster, aber deren Begründer war zudem bis in die tiefsten Adern seiner Existenz mit Köln verbunden, das zeigte nicht nur seine Biografie, sondern über all die Jahre auch die Anstecknadel mit dem Kölner Dom an seinem Revers. Und die „letzte“ bzw. „nächste“ Publikation von Hoeps, schon jahrzehntelang angekündigt, handelt eben vom Kölner Dom.

Bildtheologie – das war also das Codewort dieser Art von Forschung hier in Münster, damals in Köln. Bildtheologie – das sind vor allem auch Bildkonflikte. Behauptungen. Ansprüche. Auch nüchterne Beobachtungen, wie etwa die Entstehung der „Kunstreligion“, die am Beginn des 19. Jahrhunderts grundgelegt wurde, stand im Fokus der Forschungen und damit auch der Anspruch von Beerbung der Religion durch Kunst.

Neben den vielen Akzenten zur Forschung um die Bildtheologie ist das vierbändige „Handbuch der Bildtheologie“, das Reinhard Hoeps in einem Forschungszeitraum von nahezu 20 Jahren mit einer internationalen Forscherinnen- und Forschergruppe konzipiert und herausgegeben hat, wohl der offensichtlichste Ertrag dieser, an der Katholisch Theologischen Fakultät der Universität Münster angesiedelten Arbeitsstelle. Gerade heute sei dies erwähnt. Der erste Band lautet nämlich „Bildkonflikte“. Der vierte Band dieses „Handbuchs der Bildtheologie“ lautet: „Kunst und Religion“. Dazwischen stehen die „Funktionen des Bildes im Christentum“ (der zweite Band) und, „Zwischen Zeichen und Präsenz“ der dritte Band. Von daher ergibt sich auch, dass die Themenstellung des vierten Bandes – „Kunst und Religion“ – nicht einfach eine Aufzählung zweier Begriffe meint, sondern dass damit zum Ausdruck kommt, dass beide Bereiche etwas Eigenständiges sind, vielleicht sogar Entgegengesetztes markieren. Damit sind wir – klarerweise – beim Thema des heutigen festlichen Abends.

„IST Kunst Religion?“

Noch einmal möchte ich mit Ihnen, bevor wir uns diesem Raum hier widmen, in die Clarenbachstraße nach Köln mit ihrem für mich so hässlichen universitären Institutsgebäude zurückkehren: Denn auch wenn ich jenes Assistentenzimmerchen so traumatisch in Erinnerung habe, irgendwann und sicher auch mit einer Karriereabsicht muss ich da ja auch hingekommen sein. Damit löse ich den eigentlichen Teil meines anekdotischen Anfangs ein. Als damaliger Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und in der Folge als einer des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) wollte ich für meine Dissertation eben zu jenem Professor, den ich für meine Themenstellung für den weltbesten hielt – und das war eben der Begründer dieser „Bildtheologie“, Alex Stock. Eben war damals, 1991, das Buch „Zwischen Tempel und Museum. Theologische Kunstkritik. Positionen der Moderne“ erschienen. Das war in etwa auch mein Diplomarbeitsthema in Tübingen gewesen; doch obwohl ich mich von den besten Professoren betreut gefühlt hatte, von Stock hatte ich bis dahin noch nie gehört. So war es wie ein Sprung ins kalte Wasser, als ich beschlossen hatte: Zu diesem Mann musst du hin. Der Professor in Köln wurde vom Auswärtigen Amt informiert, dass ein Stipendiat aus Österreich ankommen würde. Und schließlich: das erste Gespräch. Clarenbachstraße. Der Herr war sehr freundlich. Ich legte los. Erklären des Grundkonzepts. Die Stipendiengeber verlangten auch in der Folge regelmäßige Treffen, Erträge, Ziele. (Das war damals neu, heute hat das jeder im kleinen Finger.) Kunst und Religion also. In Graz hatten wir bei Gerhard Larcher viel Nietzsche gemacht. Ein Kapitel musste also lauten: „Gott ist tot.“ Eines: „Wir brauchen die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen.“ Dann natürlich Hegels Ästhetik: Und sein proklamiertes Ende der Kunst. Das ja ein Fortschreiten der Geistigkeit beschreiben wollte. Vor allem die Reformation habe „das Bedürfnis innerer Geistigkeit“ mit sich gebracht, infolgedessen die Kunst „aufgehört“ hat, „das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.“

Und dann ein entscheidender Satz auch für unsere Fragestellungen heute:

„Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“

Schnitt.

Alex Stock, der freundliche Herr, der vom Auswärtigen Amt über seinen neuen Stipendiaten informiert war, – der erste übrigens! (Denn die Katholische Kirche hatte ihn nicht anerkannt, wie er jedes Semester am Sternchen im Vorlesungsverzeichnis erinnert wurde) – saß mir gegenüber. Er zögerte. Und lächelnd fragte er: „Was machen Sie, wenn doch jemand sein Knie beugt?“ Und dann setzte er auch noch nach: „Was machen Sie, wenn jemand sagt, Gott ist nicht tot?“

Das saß.

Von daher habe ich aufgehört, absoluten Sätzen zu trauen, ob sie von Nietzsche, Hegel oder Richter stammen, dem ja auch als damals 31-Jährigen das Zitat nachgesagt wird: „Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Philosophen auf der Welt.“

Mit einem Satz hatte Stock damals die entstehende Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, deren Spätfolgen wir auch in diesem Raum beobachten, weggewischt und für womöglich gar nicht gültig erklärt.

Dieses erste Gespräch um meine damalige Dissertation zählt so gesehen zu den lehrreichsten meines Lebens. Bewusst werfe ich diese Anekdote in diesen Raum um die Debatte über Gerhard Richters Pendel. Denn sie baut sich ja in dieser Stunde um die beiden Sätze:

„Kunst ist Religion.“

„Religion ist Kunst.“

Denn um Gerhard Richters Kunst ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder heftig die Debatte um die Substitution – oder die Beerbung – der Religion durch Kunst entbrannt. Das hat sicher mit dem großen Auftragswerk für das südliche Querhausfenster für den Kölner Dom, fertiggestellt im Jahre 2007, zu tun, welches damals enorme Debatten im Feuilleton ausgelöst hatte. Der in Dresden lebende Kulturphilosoph Wolfgang Ullrich hat in seinem Buch „An die Kunst glauben“ (2011) die damals öffentliche Diskussion als „Unvereinbarkeit zweier mächtiger Lager, der Religion und der sog. ‚Kunstreligion‘“ beschrieben.5Ullrich, Wolfgang: An die Kunst glauben, Berlin 2011, 15–29.

Zu dieser damals überproportional geführten Debatte hat auch der damalige Kardinal beigetragen, der über dieses Fenster abwertend gesagt hatte, es könnte auch in einer Moschee eingebaut sein. Das traf überhaupt nicht den Kern der Sache, wo es eigentlich um die Frage ging, ob und wie ein an sich inhaltsbefreiter Entwurf des weltweit teuersten Künstlers Gegenstand eines Kirchenfensters werden kann, noch dazu an einem derart berühmten Ort. Versucht man aber, dem Argument des Kardinals, (der übrigens Alex Stock so nachdrücklich verfolgt hatte,) irgendetwas Positives abzugewinnen, dann stand ja die eigentliche Erwartung im Raum: Ein Kunstwerk im so prominenten Dom sollte etwas vom christlichen Narrativ erzählen. Das hatte auch das Domkapitel ursprünglich gewollt, als man den Auftrag gegeben hatte, ein Fenster mit den „Märtyrern des 20. Jahrhunderts“ gestalten zu lassen. Doch Gerhard Richter, der bis heute in der Weltrangliste auf Platz 1 der weltweiten teuersten Künstler und gleichzeitig der weltweit berühmteste Kölner Bürger – er lebt seit 1983 dort –, der dafür gefragt worden war, notierte 2006 bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Fensters:

„Anfang 2002 legte mir die Dombaumeisterin nahe, Entwürfe für die Glasgestaltung des Südfensters zu machen. Vorgabe war die Darstellung von 6 zeitgemäßen Märtyrern. Ich war natürlich sehr beeindruckt von diesem ehrenvollen Antrag, musste aber sehr bald feststellen, dass ich dieser Aufgabe überhaupt nicht gewachsen bin.“6Richter, Gerhard: Notizen zur Pressekonferenz, 28. Juli 2006 (https://gerhard-richter.com/de/chronology, abgerufen am: 27.10.2023).

„Nicht gewachsen sein…“

„Wie kann das sein“, fragt die diesbezüglich wohl anerkannteste Autorin, die in Köln in den letzten vier Jahrzehnten immer am Kern des eigentlichen Kunst-Kirche-Geschehens stand, nämlich Katharina Winnekes,

„wie kann das sein bei einem Maler, der parallel zu seinen abstrakten Bildern immer wieder realistisch arbeitet und Foto-Bilder macht, Fotos übermalt, sie als Vorlagen benutzte, sie auf Leinwände projiziert und dann in Malerei umsetzt? Wie also ist es möglich, dass dieser Maler sich außerstande sieht, einen Entwurf mit Bildern zeitgenössischer Märtyrer vorzulegen?“7Winnekes, Katharina: Drei Maler. Drei Sichtweisen. Drei Wege. Gerhard Richter – Markus Lüpertz – Joseph Marioni, in: kunst und kirche 2/2014, 77. Jg, Wien 2014, 38–43, hier 38.

Winnekes plädiert für tiefer liegende Hindernisse – und zwar unabhängig von den individuellen Bedenken des Malers – die dabei in Betracht zu ziehen sind. Sie weiß als ehemalige Kuratorin in Kolumba wie kaum eine andere um die Tradition der Märtyrer und Märtyrerinnen Bescheid:

„Lebende Menschen werden gerädert, geviertelt, aufgespießt, auf dem Rost gebraten, man zieht ihnen die Gedärme aus dem Leib. Die Phantasie zum Ersinnen solcher Grausamkeiten erscheint unbegrenzt und die Faszination dieser Gräueltaten reicht bis in aktuelle Filme, leider auch in die Lebenswirklichkeit vieler Menschen.“[re]Ebd. 40.[/ref]

Man hätte auch Fotos von so manchen Märtyrern des 20. Jahrhunderts zur Verfügung gehabt.

In einem Zeitalter der totalen Reizüberflutung durch mediale Bilder, das die reale Gewalt sehr schnell als abgenutzt und im schlimmsten Sinne bedeutungslos erscheinen lässt, sagte Gerhard Richter zu diesem Auftrag wohlweislich: „Nein!“ Stattdessen setzte er das Fenster für das Südquerhaus des gotischen Doms wie schon erwähnt aus verschiedenfarbigen Quadraten zusammen. Dabei übernimmt ein Zufallsgenerator die Verteilung der 11.263 mundgeblasenen Echt-Antikglas-Scheiben in 72 ausgewählten Farbtönen aus einer Skala von achthundert möglichen. Die Wurzeln des Verfahrens liegen in Richters sogenannten „Rasterbildern“. Als er 1966 im Zuge der Pop Art Farbmusterkarten abmalte und in Farbtafeln zusammenstellte, grenzte er sich von Malern wie Josef Albers ab. Die Interaktion von Farben, die Albers von 1950 bis zu seinem Tod 1976 in Hunderten von Varianten mit dem Kompositionsschema von drei oder vier ineinander liegenden Quadraten untersuchte, interessierte ihn nicht.

Folgerichtig führte Richter in seinen Farbtafeln 1971 das Zufallsprinzip zur Anordnung der Farben ein; 1974 ließ er das trennende weiße Gitter zwischen den mittlerweile 4.096 Feldern fallen. 2007 kehrte er mit mittlerweile 4.900 Farben erneut zu den Rasterkompositionen mit zufälliger Farbverteilung zurück. Im gleichen Jahr beendete der Maler das 2006 beauftragte Kölner Domfenster.

In Richters künstlerischem Werdegang steht es für seinen vielleicht kompromisslosesten Weg, die Malerei weitestgehend von ihrem Urheber und von möglichen Inhalten zu befreien.

Halten wir also fest: Die totale Zurücknahme der Urheberschaft und die vollkommene Inhaltsbefreitheit war die Basis für das berühmte Kölner Domfenster. Noch einmal Katharina Winnekes:

„Per se transportiert das Fenster nichts als eben diese Botschaft. Oder doch? Wird das Fenster gerade durch die Zurücknahme der individuellen Autorschaft im umfassendsten Sinne transparent für etwas Wesentliches? Für die Malerei des einfallenden Lichtes?“8Ebd.

Das Kölner Domfenster von Gerhard Richter ist schöner und einleuchtender, betörender und verzaubernder als sein Autor oder sein Konzept der Auslöschung von Autorschaft oder Inhalt es jemals gewesen sein wird. Und gleichzeitig ist es auch eine Bestätigung des Künstlers, der auf die absolute Offenheit der Bedeutung dieses Fensters hingewiesen hat: „Es sollte nur ein strahlend schönes Fenster werden, so gut und schön und vieldeutig wie es mir und heute eben möglich war.“9Richter, Gerhard: Text für den Katalog „Beuys zu Ehren 1986“. In: Elger, Dietmar / Obrist, Hans Ulrich (Hg.): Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews und Briefe, Köln 2008, 538.

Die sechs Millionen an Besucherinnen und Besuchern, die jährlich den Kölner Dom besuchen, sehen wahrscheinlich eher durchgepixelte Scheiben. Sie spiegeln so auch die Farbtöne wider, die im Dom vorhanden sind. Oder sie bauen sich ihre jeweiligen Bildgeschichten zusammen – insgesamt waren das also bereits mehr als 90 Millionen Menschen, die diese Fenster bewusst oder unbewusst wahrgenommen haben. (Hier ist weniger Kunst Religion, sondern Religion Kunst.)

Man könnte an dieser Stelle viele wunderbare Beschreibungen dieses Fensters anführen. Die Stimme von Klaus Müller möchte ich allerdings hier besonders in Erinnerung rufen, der 25 Jahre lang hier Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie lehrte.

Müller outet sich in einem Artikel, der den Titel trägt: „Kunst und Religion. Über den Fall einer gewollt unglücklichen Begegnung“10Müller, Klaus: Kunst und Religion. Über den Fall einer gewollt unglücklichen Begegnung, in: Lebendige Seelsorge, 69. Jahrgang 1/2018, 64–68. (damit ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Raum gemeint!) – ausdrücklich als Fan von Gerhard Richter. Auch mit vielen seiner Aussagen, besonders aber seinem viel diskutierten Fenster im Kölner Dom. Für die 11.263 leuchtenden Farbflächen wagt Müller – der Inhaltsbefreitheit seines Schöpfers zum Trotz – eine eindrucksvolle religiöse Deutung:

„Wenn jemand mit geistlichen Augen auf das Fenster schaut, könnte sie oder er sich denken: Ich habe auch mit dem, was aus mir geworden ist, worum ich gekämpft und wonach ich gestrebt habe, meinem Leben seine besondere Färbung gegeben. Jede und jeder anders, selbst dort noch, wo sie aufs Erste gesehen mehr oder weniger gleich aussehen. Und wenn Glaubende das zusammentragen und -fügen, was jede und jeder für sich ist, dann wird es zusammenklingen und wird es Zeugnis geben, dass es in der Welt aller Finsternis zum Trotz auch Lichtes gibt und manche Stunde strahlenden Glanzes.“

Um dann ekklesiologisch zu resümieren:

„Wäre das nicht auch ein mögliches Bild von Kirche, durchaus das einer ecclesia triumphans, eines strahlenden neuen Jerusalem, aber eben das Bild von einer egalitären, menschlich gewendet: geschwisterlichen Gottesstadt, in der das Nebeneinander und Miteinander wichtig ist und nicht das Repräsentieren und Dominieren? Zu solchen Gedanken hätte ein Richter-Werk den Anstoß geben können.“11Ebd., 66.

Der letzte Satz bezieht sich freilich auf Richters Kunstwerk hier in diesem Raum. Um dann gleich fortzufahren: „Hätte, hätte, Fahrradkette…“12Ebd.

Das tun wir hier freilich nicht, zumindest nicht jetzt. Denn damit kommen wir endlich zum Pendel in diesem Raum. Ist es eine glückliche oder „gewollt unglückliche Begegnung von Kunst und Religion“? Wahrscheinlich hängen wohl fast alle, die diesen „neuen“ Raum erstmals betreten, der ersten Alternative an. Wie schön dieser Raum doch ist – wie gemacht für dieses Kunstwerk.

Man erinnert sich dabei freilich auch an einen Konflikt mit der offiziellen Kirche über das bislang geltende „Ptolemäische Weltbild“, an Johannes Kopernikus und dessen Proklamierung eines „heliozentrischen Weltbilds“, fern vielleicht auch an Giordano Bruno, an Johannes Kepler, an Isaac Newton. An Galileo Galilei, der nach einem Prozess mit der Inquisition 1633 seine Thesen widerrief und nach dem Prozess gesagt haben soll: „Und sie bewegt sich doch…“  Nicht jede Geschichte hat man vielleicht sofort abrufbereit, aber eines blieb doch: Kirche und neuzeitliche Astronomie, Kirche und Wissenschaft lagen in jener Zeit in zentralen Punkten im Streit. Freilich, mit der Erdrotation oder der Kugelgestalt der Erde haben nicht all diese Namen und Geschichten zu tun, auch wenn der Künstler Gerhard Richter bei einem öffentlichen Gespräch zu diesem Kunstwerk gesagt haben soll, dass es gut sei, dass das Foucaultsche Pendel nun in einer Kirche installiert werde, das symbolisiere doch „einen kleinen Sieg der Naturwissenschaft über die Kirche“. Müller nannte diese Äußerung im Gegenzug „unterkomplex“.

Das Zitat trifft freilich gar nicht Gerhard Richters Kunstansatz, der vielmehr von einem höchst komplexen Vernetzungsdenken von Naturwissenschaft, Kunst, aber auch Theologie zeugt.

Dieses so genannte Foucault’sche Pendel ist im Ansatz Richters ja eigentlich ein „Zitat“: Nämlich jenes Experiments, das der französische Physiker Léon Foucault 1851 im Pariser Panthéon öffentlich durchführte: Es bewies damit bekanntlich einer breiten Öffentlichkeit die nicht unmittelbar wahrnehmbare, jedoch alles beeinflussende Erdrotation: Das Pendel hier besteht aus einer Metallkugel mit einem Durchmesser von 22 Zentimetern, die Kugel ist fast 50 Kilogramm schwer. Das Seil, an dem die Kugel hängt, ist in der Vierungskuppel befestigt. Für die ununterbrochene Pendelbewegung der Kugel sorgt ein elektromagnetischer Antrieb unterhalb der kreisrunden Bodenplatte: Das ist aber schon vielmehr „Richter“, denn er spielt mit der eigentlichen Unmöglichkeit eines perpetuum mobile. So wird dieses Pendel auch zum Teil einer „kleinen Wunderkammer“. Wenn man länger bleibt, sieht man, wie das Pendel immer neue Skalen imaginär antippt. Da die Schwerkraft nur senkrecht wirkt, wird klar, dass sich nicht das Pendel bewegt, sondern der Boden. Das Verhältnis des Pendels zur sich drehenden Erdoberfläche lässt sich an der 360-Grad-Winkelmaßskalierung der Bodenplatte ablesen.

Man kann sich natürlich fragen, warum der Künstler Gerhard Richter, den wir ja primär als Maler kennen, eines der bekanntesten Experimente der Wissenschaftsgeschichte in sein eigenes Werk integriert. Der Titel dieses Kunstwerks heißt allerdings nicht „Das Foucault’sche Pendel von Gerhard Richter“, sondern „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel, 2018, 51°57’43.236″N 7°37’50.7″E“

Ganz wesentlich dabei ist die „zeitliche und räumliche Irritation“, ja die Erfahrung des „Schwindels“13Hoppe-Sailer, Richard: Experiment und ästhetische Erfahrung. Überlegungen zu Gerhard Richters Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel in der Dominikanerkirche zu Münster, 2018, 16., wie Richard Hoppe-Sailer in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz zu diesem Werk erläutert hat:

„Die Visualisierung der Erdrotation mittels des Foucaultschen Pendels macht uns unseren instabilen Stand auf diesem Planten deutlich. Die Erfahrung des Schwindels wird so zu einem sensuellen Äquivalent unserer mehrfach bewegten Existenz im All.“14Ebd.

Die eigentlichen Subjekte des TITELS sind also vier hochrechteckige graue Glasplatten, je 6 Meter hoch, die Pendel und Bodenplatte flankieren. Sie hängen paarweise an den Wänden des Querhauses der Dominikanerkirche. Dieses Material, diese Farbgebung durch Grau kennen wir in Richters Œuvre seit den späten 1960er Jahren. Zu diesem Grau formulierte Richter nämlich 1975:

„Grau. Es hat schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus […]. Und es ist wie keine andere Farbe geeignet, ‚nichts‘ zu veranschaulichen. Grau ist für mich die willkommene und einzig mögliche Entsprechung zu Indifferenz, Aussageverweigerung, Meinungslosigkeit, Gestaltlosigkeit.“15Richter, Gerhard, „Aus einem Brief an Edy de Wilde, 23.2.1975“. In: Elger, Dietmar / Obrist, Hans Ulrich (Hg.): Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews und Briefe, Köln 2008, 92.

In eben diesen „grauen Doppelspiegeln“ bildet das Kunstwerk dieses Raums somit eine Brücke zum Kölner Domfenster, auch wenn dort alles bunt ist und hier nur grau.

Gerhard Richter interessiert in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen seiner Malerei die „visuelle Wahrnehmung als solche“. Was sind ihre Bedingungen? Ihre Möglichkeiten? Wie ist das Verhältnis von Malerei und Wirklichkeit?

Um diesem nachzugehen, „hat er sämtliche Varianten der malerischen Subjektkritik mit Rekurs auf die jeweils avanciertesten Techniken durchgespielt“.16Merle, a.a.O.

Alles, was zwischen den Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche passiert, wird unweigerlich ins Werk einbezogen: Wir spiegeln uns, wir werden dabei sowohl mit den Möglichkeiten wie auch der Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung konfrontiert. Wir werden dabei der Erfahrung des Schwindels gewahr. Alles ist eigentlich unscharf. Die Installation macht etwas sinnlich erfahrbar, das sich unserer begrenzten Wahrnehmung entzieht, zugleich befragt sie unser Verlangen zu sehen und zu verstehen. Und sie lehrt uns, dass wir uns zu relativieren haben in unserem Wahrheitsanspruch – als Vertreter der Naturwissenschaft, der Kunst oder auch der Theologie. Richter ist gerade darin sehr deutlich. Es meint das Museum, den naturwissenschaftlichen Beweis, auch den liturgischen Ort.

Wir finden uns in den grauen Doppelspiegeln des Künstlers Gerhard Richter aber nicht nur als verschwimmende Subjekte wieder, sondern auch in der Geschichte ihres Raums, das Richter hier auch als „Zitat“ verwendet. Diese Geschichte war in ihrer intentionalen Architektur für eine Kirche bestimmt. Das Pendel hat den bisherigen Altar wegräumen lassen – auch diese „Erinnerung“ ist ein Zitat in der Installation. Allerdings: Er war gar nicht immer da: Einer ist noch hinter der Wand, ich habe ihn schon Beginn dieses Vortrags als „entweiht“ bezeichnet, er kam erst 1901 hierher; warum er hinter einer Wand verborgen ist, ist ungeklärt, doch Richter wollte ihn auch so stehen lassen, er wollte keinen „white cube“ für dieses Werk. Dort, wo „jetzt das Pendel kratzt“17Müller, a.a.O., wie Klaus Müller, der 18 Jahre lang die Funktion des Kirchenrektors dieser ehemaligen Kirche innehatte – nach dem Dogmatiker Peter Hünermann, dem Exegeten Karl Kertelge und dem Kirchenhistoriker Arnold Angenendt – in seiner damaligen Wut über den Vorgang der Profanierung schrieb, war seit 1974 der Zelebrationsaltar positioniert, also der Ort, „an dem Christen das Leidensgedächtnis Jesu begehen und das Geheimnis ihres Glaubens feiern“18Tück, a.a.O.. Die nach den Bomben des 2. Weltkriegs zur Ruine entstellte und ab 1961 bis 1974 wieder aufgebaute Kirche wurde der Katholisch-Theologischen Fakultät als Universitätskirche zur Verfügung gestellt. In dieser Zeit hatte sich auch die Auffassung über den Altar geändert. Erst seit damals ist er unter die Kuppel gewandert. „Entweiht“ hat den Hochaltar also auch die Geschichte der katholischen Liturgie selbst, um genau zu sein.

Zeitlich bemessen sind das 43 Jahre – das ist, gemessen an der 290-jährigen Geschichte des Raums zwar ein nicht überlanger, aber dennoch ein bedeutender Teil der Biografie dieses Raums.

Ich bin gespannt, ob in 40 Jahren das Richter’sche Pendel noch so schwingen wird wie heute. Und ob die Attraktiviät des neuen Heiligtums so lange währen wird. (Am Ende werden auch hier die laufenden Kosten ausschlaggebend sein, vermute ich.)

Diese Aussicht fügt sich jedenfalls zum Schluss unserer Überlegungen.

Bildtheologie, wie sie an der Universität Münster gelehrt und betrieben wird, stellt die Fragen, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden müssen, auch öffentlich. Ein Ort wie dieser ist Teil der Geschichte der Kirche in einer säkularen Gesellschaft.

Die Bilderfrage, ganz allgemein gesagt, ist in den letzten Jahrzehnten virulenter geworden denn je: Unsere mediale Wahrnehmung, die visuelle Kommunikation – alles hängt primär an Bildern. Wie wohl tut da dieses Grau von Richter! Wir wissen ja längst nicht mehr, ob ein Bild „echt“ ist, ob man ihm trauen soll, ob es ein Fake ist. Und dennoch werden wir von Bildern in unserer Weltdeutung, unserer Urteilsfähigkeit und unserer Sinnorientierung beeinflusst wie vielleicht nie zuvor. Wenn sich die Theologie hier nicht mit ihrem eigenen Schatz an Bildkritik und der Geschichte ihres eigenen Ikonoklasmus einbringen würde, müsste man ihre fortschreitende Marginalisierung auch auf ihren eigenen Saldo schieben. Die Gebärden von Sieg und Niederlage, die die Geschichte der Aneignung dieses Raumes für das große Kunstwerk leider auch hier begleitet haben, bedürfen auch in Zukunft der ausdeutenden Erzählung: Naturwissenschaft ist jedenfalls nicht die einzige Form, die Welt wissenschaftlich zu deuten!

Es ist dabei auch die KUNST eine entsprechende Partnerin, auch die Theologie. Gerhard Richters Doppelspiegel für ein Pendel ist hier ein so nachvollziehbarer und „evidenter“ Beitrag, den eigenen Wahrheitsanspruch – auch der Naturwissenschaft – zu relativieren. Denn auch sie ist hier, nicht nur der Kirchenraum, der Hochaltar oder der entfernte Altar, ein Zitat. Was Theologie und Kunst, ja vielleicht sogar die Naturwissenschaft verbindet, ist ein gemeinsames Interesse an der Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Dieses Kunstwerk leistet dieses Interesse mit der Erfahrung des „Schwindels“.  Destabilisierung als Voraussetzung für die Erkenntnis des je Größeren.

Wenn man die eigentliche Message von Gerhard Richters „Doppelspiegel für ein Pendel“ hier in diesem Raum fruchtbar macht, dann geht es bei aller Inhaltsbefreitheit dabei doch um die Sensibilisierung von Wahrnehmung. Während wir uns als Betrachtende in den Spiegeln ins Unendliche spiegeln und dabei in der Unschärfe wahrnehmen, erinnert uns das schwingende Pendel in unmittelbarer Nähe, dass wir auf der Erde sind, auf dieser schönen, aber gefährdeten Erde, die sich, während wir uns im Schwindel fast als „tableaux vivant“ wahrnehmen, langsam dreht. Das hat meines Erachtens mit dem Ansichtig-Machen von „naturwissenschaftlicher Evidenz“, (wie es in der Beschlussvorlage hieß) nur sehr wenig zu tun.

Viel gravierender ist die SUBJEKTKRITIK, die die „grauen Spiegel“ Gerhard Richters leisten. Es ist auch eine Kritik an ideologisches Denken.  Sie hindert die Betrachtenden jedoch nicht, sich als Subjekte wieder zu erinnern, sich wieder zu finden, sich als Subjekte zu formen, aller katastrophischen Weltgefühle und aller posthumanen und transhumanen Ansätze der Gegenwartsdeutung zum Trotz. Denn so, wie wir die Welt mittels Bildern derzeit wahrnehmen – die Bilder des Krieges, der rassistischen Hetze, der Flucht, der klimatischen Extremereignisse wie Hitze und Flut sind – braucht es erst recht das entschiedene Subjekt, das fähig ist, das eigene Leben schlicht auch zu ändern. Sonst wäre Kunsterfahrung Schöngeisterei. Und das fähig ist, zur weiteren Zerstörung ein klares Nein zu sagen, indem wenigstens der eigene Lebensstil sich ändert. Und das fähig ist, Widerstand gegen eine neue Verrohung zu leisten.

Der Barock, aus dem ich stamme, hat, wie anfangs erwähnt, an der Decke Bilder. Sie handeln meist vom Himmel, formal ist es jedenfalls eine entgrenzte Architektur in Form von Scheinmalerei. Destabilisierung ist auch dort ein Teil des Bildkonzepts. Insofern ist jener den grauen Doppelspiegeln gar nicht so fremd, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Geschichten des Himmels, die der Barock in meiner Heimat auf die Decke gemalt hat, glauben wir alle nicht mehr. Insofern hatte Hegel damals recht: Wir beugen auch das Knie vor ihnen nicht mehr.

Aber wenn wir nicht wieder lernen, die Sprache und den Sinn der Bilder, der historischen, wie der gegenwärtigen, für unsere eigene Weltdeutung fruchtbar zu machen, wenn wir nicht lautstark einfordern, neben der „naturwissenschaftlichen Evidenz“ auch die künstlerische und poetische nicht nur dazuzustellen, sondern auch zu deuten, dann verkümmern wir geistig – nicht nur als Subjekte, sondern auch als Gesellschaft. Das ist also der besondere Forschungsort zukünftiger Bildtheologie hier. Und er ist mehr als gesellschaftsrelevant!

Bildtheologie, in der Vermittlung des christlichen KULTURERBES derzeit in Münster gerade besonders stark, wird sich wohl auch mehr als bisher mit dem Prozess ihrer Säkularisation auseinandersetzen müssen. Denn Profanierungen, wie diese hier, werden in den nächsten Jahren vielen Kirchen blühen: In diesem Raum ist das Wort sogar in den Plural gesetzt! Oft geht es historisch schnell: So war es bei Napoleon, so war es im 2. Weltkrieg. Die so genannte „Säkularisation“ hatte nicht nur für diesen Raum enorme Konsequenzen. In ihm wurden in der Folge, von 1820 bis 1880 „kaputte Kanonen und Haubitzen repariert“19Müller, a.a.O., wie Klaus Müller erinnert, ehe er 1889 zur Schulkirche des städtischen Realgymnasiums wurde, indem er von der Stadt Münster zurückgekauft wurde.

Im Kontrast zur Waffenwerkstatt von einst ist das Angebot Gerhard Richters für den Prozess einer Profanierung beinahe als vorbildlich einzustufen: Was könnte man gegen eine Dauerreflexion dagegen haben, noch dazu in der Nähe eines Versuchs, der uns an die Grenzen unserer Wahrnehmung bringt? Wenn man die jüngste Geschichte dieser Kirche nicht kennte, könnte man ausschließlich begeistert sein!

Bildtheologie, so gesehen, muss aber auch die Trauer für einen Raum benennen, den jene empfinden, die diesen Raum als „Fanum“, also als Heiligtum, erlebt und in ihm gefeiert haben. Das ist oft zu wenig selbstverständlich.

Sie muss aber umgekehrt auch verstärkt Auskunft geben, was dieses „Heilige“ heute denn ist, das ihm da genommen wurde, nicht nur, was es in der Vergangenheit war. (Es könnte ja auch in die Kunst gewandert sein.)

Von Gerhard Richter, dem großen Skeptiker von Erkenntnis und Wahrnehmung, gibt es auch überraschende, nahezu romantische Engführungen von Religion und Kunst. So schrieb er in seinen „Notizen“ unter dem Datum 3.1.88: „Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach ‚Gott‘.“20Richter, Text, 203.

In der Forderung, das Heilige auch benennen zu können, sollte die Bildtheologie auch die anderen theologischen Disziplinen betören, dass auch sie Auskunft geben können, was etwa an einem Raum, ihrer Ausstattung und ihrer Performanz heute heilig ist – das gilt für die Kirche, wie auch für die Kunst. Als Richter 2004 eingeladen wird für „100 Artists See God“ im The Jewish Museum, San Francisco, einen Beitrag zu liefern, versieht er sein Werk mit folgender Notiz:

„Ein monochromes graues Bild, Öl auf Leinwand, in irgendeiner Größe, ist einfach die einzige mögliche Repräsentation / das einzig mögliche Bildnis von Gott. Das scheint sehr einfach, zu einfach; selbstverständlich habe ich, als ich dieses graue Bild malte, weder versucht eine Vorstellung von Gott zu schaffen, noch wäre ich fähig, ein solches Bild überhaupt zu malen.“21Ebd., 467.

Bildtheologie wird sich also immer wieder des Ikonoklasmus erinnern und dabei aber auch die falschen Götter, die falschen Priester und auch das falsche Opfergeld entlarven oder in Schwindel versetzen – ganz so, wie es dieses Kunstwerk hier tut. Vielleicht ist das auch ein Beitrag zur Toleranz bzw. zur Vermittlung zwischen den – um noch einmal an Wolfgang Ullrich zu erinnern – „unversöhnlichen Lagern zwischen der Kunstreligion und der Religion“. Am Ende ist doch die Transzendierungsfähigkeit der entscheidende Punkt und die mit ihr eingehende Erfahrung von Leben, Lebensbefähigung, Verantwortung für diese Welt, der Fähigkeit zum Verzeihen und nicht zuletzt auch von Trost.

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Den biblischen Gott darstellen

Wer einen Blick auf Karl Rahners 40-bdge. Sämtliche Werke wirft oder seinen nüchtern-widerständigen Schreibstil kennt, mag überrascht sein, dass er sich auch zu den Künsten äußerte. Schaut man ins Register, so sind es nur wenige Essays und Gelegenheitsschriften und tatsächlich nur ein einziger später Beitrag, der sich explizit der Kunst des Bildes widmet.1Vorgrimler verweist auf Rahners Pläne, Kunst als eigene Unterkapitel im Aufriss der Dogmatik und dem Handbuch Pastoraltheologie als spezielle Ausformung der ekklesiologischen Situation in der Welt von heute zu integrieren (vgl. Vorgrimler, Herbert: Heutige Theologie und heutige Kunst (1964), in: Ders.: Wegsuche. Kleine Schriften zur Theologie 2 (MThA49/2). Altenberge 1998, 592–602, 594). Weitere kleine Beiträge von Rahner befassen sich nicht mit dem Wesen der Bildkunst, sondern mit Sprachbildern, Theologie und Literatur, Theologie und Dichtung etc. und fallen überwiegend in die Phase seiner Begegnung mit der Schriftstellerin Luise Rinser Anfang der 1960er Jahre. Dieser Artikel atmet zugleich aus der ganze Bandbreite seines theologischen Schaffens und geht doch in der Rezeptionsgeschichte fast unter.4Zu diesem Phänomen und seiner Einordnung, etwa im Vergleich zum deutlich mehr behandelten Hans Urs von Balthasar vgl. Hétier, Denis: Élements d’une théologie fondamentale de la création artistique. Les écrits théologiques sur l’art chez Karl Rahner (1954–1983), in: RSR 107 (2018), 467–486, 467–470. Thematisiert wurde Rahners Zugang zu Kunst, mit Ausnahme von Vorgrimleres Beitrag 1964, erst postmortem und weltweit verstreut (Frankreich, Portugal, UK, USA).2Die wichtigsten Beiträge, die sich mit dem Thema befassen, sind chronologisch: Vorgrimler, Theologie 592–602; Duque, João M.: A arte como teologia. Sobre alguns textos de Karl Rahner, in: Theologica 30 (1995) 139–153; Tourenne, Yves: Amorce d‘une esthétique théologique chez Karl Rahner?, in: RSR 85 (1997) 383–418; Little, Brent: Anthropology and Art in the Theology of Karl Rahner, in: HeyJ 52 (2011) 939–951; Hétier, Élements 467–486 (Neuabdr. 2020); Chong, Vicente: A Theological Aesthetics of Liberation. God, Art, and the Social Outcasts, Eugene, OR 2019. Nachfolgend sollen die Gedanken Rahners und seiner RezipientInnen knapp korreliert und dann auf ihr Potenzial für eine heutige Bildtheologie hin befragt werden. Die Struktur orientiert sich dabei an der für Rahner typischen Konstellation: zunächst die anthropologischen Voraussetzungen, dann die religiös-lehramtlichen Gegebenheiten und schließlich die aktuellen Problemstellungen.

I. Bildlichkeit und Anthropologie

Seinen Beitrag Zur Theologie der religiösen Bedeutung des Bildes (1983)3Rahner, Karl: Zur Theologie der religiösen Bedeutung des Bildes, in: SW 30. Freiburg i.Br. 2009, 471–483. eröffnet Rahner mit der Feststellung, Kunst setze, ebenso wie jeder andere menschliche Verstehens-Akt, eine Form sinnlicher Erkenntnis voraus, nur um gleich nachzulegen, dass zwischen materieller und geistiger Erkenntnis zwar zu unterscheiden sei, sie aber nicht schlechterdings getrennt werden könnten.5Vgl. ebd. 471f. Wenn man ein Bild erkennen wolle, dann sei es zunächst gleichgültig, ob dies auf materielle oder geistige Art geschehe, es müsse jedenfalls ein Akt des Sehens sein. Das Sehen aber, so wie jeder Sinn, greift immer schon über das eigene Sein hinaus nach einem Anderen und ist somit ein (kleiner) Akt der Transzendenz.6Vgl. ebd. 480. Dieser hat eine zusätzliche Besonderheit, denn er ist unvertretbar und inkonsummerabel, d. h. ich kann das Bild nur sehen, wenn meine sinnliche Fähigkeit zu Sehen vorhanden ist. Auch wenn wir sagen eine blinde Person könne quasi „mit den Ohren sehen“ oder man könne ihr durch Beschreibung des Gegenstandes „ein Bild vermitteln“, ist es letztlich nicht so, als könnte das Hören die gleiche Qualität wie das Sehen eines Bildes einnehmen.7Vgl. ebd. 474. Dies bedeutet im Umkehrschluss, ein Bild verlangt, von seinem Wesen her, gesehen zu werden und ist damit von vorne herein ein auf Transzendenz hin konzipiertes Objekt.8Vgl. Rahner, Theologie 477; Chong, Aesthetics 53.

Um diese Aussage in den Kontext seiner Theologie zu stellen, seien an dieser Stelle noch zwei Anmerkungen gemacht. Rahner hatte in seinen frühesten Schriften (1930er-Jahre) über die geistigen Sinne bei den Kirchenvätern und über die Herz-Jesu-Frömmigkeit und ihre theologischen Quellen publiziert.9Gut zu erkennen auf den Seiten Rahner, Theologie 473–476 (Texte zu geistigen Sinnen und Herz Jesu in Rahner, SW 1–3). Die Möglichkeit, mit verinnerlichten Sinnen nach Gott als dem Welttranszendenten auszugreifen, mündete später in die zwei Merkmale der berühmten Rahnerschen anthropologischen Wende, den Hörer des Wortes und das übernatürliche Existenzial. Wenn Rahner also davon spricht, die Wahrnehmung von Kunst sei in sich ein Akt der Transzendenz, dann sieht er die Schaffung von Kunst zugleich als eine Schöpfung des Menschen bzw. als menschlichen Anteil an der creatio continua an. Dies verbindet er notwendig mit dem Schöpfungswort (Gen 1,3; Joh 1,1), das aus dem Inneren Gottes hervorgeht wie das Kunstwerk aus den KünstlerInnen (Anlehnung an Heideggers These des verdichteten Schweigens als Ursprung der Sprache).10Vgl. Hétier, Élements 472

Ein zweiter Aspekt bei der Kunstbetrachtung hängt mit Rahners Verständnis von geistiger Übung und Mystik zusammen. Für ihn ist die „Bildbetrachtung“ (eine jesuitische Übung) keinesfalls mit der Kontemplation vergleichbar, da letztere das sich-Ausrichten auf Gott und nicht auf ein Medium der Vermittlung (das Bild) hin praktiziert. Der Mensch kann sich folglich dem Göttlichen auf mehrere Wege anzunähern suchen, wobei die Bildbetrachtung im Nachhinein eine Form von gedeuteter Erfahrung ist, die mit pneumatischen Eigenschaften zusammenfällt und eine Funktion für die Gesellschaft bzw. die Kirche erfüllt.11Ähnlich Hétier, Élements 485; Vorgrimler, Theologie 594. KünstlerInnen, die sakrale Kunst gestalten wollen, müssen ihr inneres Auge schärfen und offen für den Geist sein, da ihr Charisma und die Inspiration Voraussetzungen sind und man deshalb bei Sakralkunst von theologisch begnadeten Künstlern sprechen könne.12So Little, Anthropology 939.

Um die anthropologischen Voraussetzungen von Rezeption zu schaffen, hat Rahner nach Chong und Duque bereits bei der universalen Sprache der Kunst angesetzt, d. h. er geht archetypisch von einer Art Symbolsprache in Bildern aus, die allen Menschen erlaubt, miteinander in der Kunst zu kommunizieren.13Vgl. Duque, Arte 143; Little, Anthropology 944; Chong, Aesthetics 49–53. Was hier schon anklingt, aber erst weiter unten diskutiert werden muss, ist das romantische Autorgenie, die Wende zur Rezeption durch die Betrachtenden und vor allem das Problem eines ontologisch-metaphysischen Kunstverständnisses, welches kulturelle Gegebenheiten bis zu einem gewissen Maße ignorieren muss, um funktionieren zu können.

II. Religion und die Darstellbarkeit Gottes (im Christentum)

Für Rahner kommt nur spezifisch religiöse Kunst als Ort seines theologisch-ästhetischen Fragens in den Blick, weshalb wichtig ist, was Kunst für ihn als religiös qualifiziert.14Vgl. ebd. 53. Duque, Arte 146, ordnet Rahner damit in eine allgemeine Tendenz der Theologie ein, Kunst als nebensächlich und eher von liturgisch-ästhetischem Interesse zu betrachten, als ihren theologiegenerativen Wert zu erkennen. Die knappste Antwort ist: Kunst muss, um religiös zu sein, über das Wesen des Religiösen und besonders über Gott spekulieren.15Vgl. Chong, Aesthetics 54. Tritt man einen Schritt zurück, so knüpft Rahner am Bereich der Sinne an und erkennt: „auch die religiöse Erfahrung geht von einer sinnlichen aus“.16Rahner, Theologie 472. Aus ihr entsteht, wie oben bereits geschrieben, die Produktion eines Kunstwerks. Andererseits kann aber auch ein Bild, das ursprünglich nicht religiös intendiert war, durch die rezipierende Betrachtung eine religiöse Bedeutung erhalten.17Vgl. ebd. 480. Das Bild an sich ist also zunächst nicht religiös, sondern erst die von ihm entfaltete Wirkung durch das „Gesehenwerden“18Vgl. ebd. 477. Besonders schwierig wird es nach Duque, Arte, 143, für die Kunst ab der Neuzeit, bei der oftmals zwar religiöse Motive gewählt wurden, jedoch keine religiöse Intention dahinterstand, z. B. die Darstellungen nackter Märtyrer wie der Hl. Sebastian, die erlaubten, die Ästhetik des menschlichen Körpers detailliert auszugestalten. (s. o.). In einem zweiten Schritt kann man zwischen allgemein religiösen und kultischen Bildern unterscheiden, wobei letztere sowohl im Ursprungs- als auch im Wirkungskontext religiös intendiert sein müssen, z. B. Ikonen oder antike Kultstatuen. Ihr religiöser Status wird dabei gesichert durch die kollektive Verehrung, d. h. selbst wenn ein kultisches Bild als solches gedacht war, hängt sein Funktionieren stärker von der Rezeption als von der Produktion ab.19Vgl. Rahner, Theologie 472.477. Auf S. 476 spricht er vom inkarnatorischen Prinzip als Garantie der Christusikone, eine echtes Kultbild zu sein, das sich theologisch von der Kunst des Westens abhebe, die das rein symbolische bzw. vermittelnde Elemente religiöser Kunst (sein Beispiel ist die biblia pauperum) nicht zur Verehrung hin überschreiten konnte. Für Rahner kann ein solches Kultbild nur die Gottheit darstellen, andere Ikonen oder auch die im Westen häufig verehrten wundertätigen Bilder v. a. Mariens, würden für ihn in eine andere Kategorie fallen.

In einem weiteren Schritt unterscheidet Rahner zwischen dem allgemeinen religiösen Bild und der Darstellung Gottes im Christentum, in Abgrenzung zu Judentum und Islam:

„Die Schaffung, Anerkennung, ja Verehrung des religiösen Bildes unterscheidet unter anderem ja das Christentum und seine Frömmigkeit von der des AT mit seinem Bilderverbot und vom Islam, also den beiden anderen großen monotheistischen Hoch- und Weltreligionen.“20Ebd. 476.

Was meint er damit? Rahners gesamtes Denken ist grundsätzlich christozentrisch. Im Akt der Inkarnation des Logos, so seine Annahme, muss der Sohn nach Joh 1,18 ganz Mensch gewesen sein. Als solcher war er durch die Sinne seiner ZeitgenossInnen wahrnehmbar und hat damit selbst die Grenze des sinnlich Wahrnehmbaren überschritten: er ist auch eine Offenbarung im Visuellen. Diese visuelle Erfahrung und die Tatsache seiner sichtbaren Auferstehung erlauben daher auch den KünstlerInnen nachfolgender Generationen, ihre Gotteserfahrung des Sohnes ins Bild zu bringen.21Vgl. ebd. 473. Da wir jedoch nicht mehr wissen, wie Jesus ausgesehen hat, ist allein das Zeugnis der Bibel und unsere rationale Spekulation übrig, um das Göttliche darzustellen. Im Gegensatz zu den anderen sogenannten abrahamitischen Monotheismen sieht Rahner in der Inkarnation die Überwindung des Darstellungsverbotes (Ex 20,4-6; Dtn 5,8-10); allerdings nur, das sei einschränkend zu sagen, in Bezug auf den Sohn. Er äußert sich weder zur Darstellung des Gnadenstuhls, der alle trinitarischen Personen abbildet, noch zum Symbol der Taube oder der Feuerzunge für die Geistkraft.

III. Problemfall moderne Kunst

Durch die Begegnung mit der modernen, vor allem abstrakter Kunst seiner Zeit sieht Rahner sich genötigt, noch einmal genauer auf die Funktion der Sakralkunst für die Theologie und den Glauben einzugehen. Zunächst einmal spricht er ganz in der Tradition des II. Vatikanischen Konzils von den Zeichen der Zeit und der historischen Gegebenheit als Transzendentalia der Kunst. Jede heilsgeschichtliche Epoche, so seine Meinung, braucht ihre eigene Art sich auszudrücken, und dies gilt selbstverständlich auch für die Künste, als eigenes Medium dieses Ausdrucks. Viele sakrale Kunstwerke vom Kirchenbau, über Graffito bis hin Heiligenbildern und Gemälden überdauern ihre Entstehungszeit und begegnen auch anderen ZeitgenossInnen, für die sie ihre intendierte Wirkung zu entfalten sollten und doch eine je neue und andere hervorrufen. Gemessen werden könne die Wirkung daran, ob das Kunstwerk einen „Durchbruch zu Gott“22Vgl. Rahner, Theologie, 478f.; Duque, Arte, 150. Duques Zugang ist an dieser Stelle sicher wesentlich existentialistischer, als der strikt ontologische Zugang von Rahner. Für die Kunstdeutung ist dieser Hinweis m. E. dennoch sehr wichtig, weil er auch auf protestantischer Seite gedacht wurde. Wenn ein Kunstwerk seine bildtheologische Deutung entfaltet, dann brauchen die Betrachtenden dafür eine eigene Hermeneutik, deren Züge religiös mitbedingt sind. Sie geht aus von dem, was das Subjekt je unbedingt angeht (P. Tillichs ultimate concern) und ist zugleich sicher, den Schlüssel zum Werk nur in der transzendenten Erfahrung zu finden. Von Schleiermacher bis Lauster wird über das Wesen dieser Hermeneutik und ihre möglichen Methoden spekuliert. In dieser Debatte kann interessant sein, dass Rahner dabei weiterhin strikt zwischen Kontemplation und Bildbetrachtung unterscheidet und deshalb ausschließt, dass die Betrachtung eines Bildes zu einer Form der unio mystica oder eines ähnlich gelagerten disclosure Erfahrung führen kann. vermittelt oder nicht.

Von dieser Funktion ausgehend geraten die abstrakten und sperrigen Kunstwerke der Avantgarde seit den 1960er-Jahren aus Rahners Perspektive in eine Schieflage.23Duque, Arte 141, entschuldigt Rahners Reserviertheit für moderne Kunst mit der langen Phase des Antimodernismus der Kirche, welcher es einem neuscholastischen Theologen wie Rahner de facto unmöglich machte, unvoreingenommen modernen Ausdrucksformen zu begegnen. Selbst ein freier Denker wie Rahner konnte nicht mehr seinen biographischen Horizont verlassen. Die Werke sind keine Symbole oder Piktogramme, die durch Kenntnis der Symbolsprache oder einfache Betrachtung entschlüsselt werden könnten. Schon gar nicht sind sie – wie die biblia pauperum – allen Menschen unmittelbar zugänglich, wenn sie nur die Geschichten kennen. Würde die anbrechende Spätmoderne nur solche Bilder verwenden, ohne die Tradition zu kennen, dann würde die Heilsgeschichte durch eine solche Sakralkunst verschleiert, so Rahner weiter, und etwa ein abstraktes Kreuz würde nicht mehr als Symbol hin auf die Hoffnung des Auferstanden gedeutet werden können.24Vgl. Rahner, Theologie 481. Doch Rahner wäre nicht er selbst, wenn er keine Lösung anbieten könnte: das Sprachbild. Rahner ist überzeugt, dass allein die Sprache in ihrer Präzision und Rationalität in der Lage ist, die Offenbarungserfahrung zu ermöglichen. Es ist also letztlich nicht das Bild selbst, sondern seine Wirkung in Gedanken und schließlich in geäußerten Worten, die den Durchbruch zu Gott perfekt macht.25Vgl. ebd. 475.481. Chong, Aesthetics, 55, wendet dagegen ein, dass Kunst immer das Produkt einer Offenbarungserfahrung ist. Die Darstellung ist dabei unabhängig vom Medium (Leinwand, Sprache etc.) nie univok, sondern immer analog. Chong will m. E. damit ausdrücken, Rahner traut der Sprache mehr zu, als ihr selbst nach dem linguistic turn zugebilligt werden kann. Ihre Präzision täuscht darüber hinweg, dass sie immer noch ein Symbol für die Erfahrung ist und eben kein – wie Rahner es nennen würde Realsymbol ( = ein Symbol, das identisch ist mit dem, was es symbolisiert). Post-StrukturalistInnen würden das gleiche Phänomen mit der Trennung von Signifikat und Signifikant erklären, um den metaphysischen Impetus des Analogieschlusses zu umgehen. Buchstaben sind dann ebenso Bilder, wie jede andere Kunst und den Kriterien der Konstruktion, der Konvention und der Sinnoffenheit unterworfen. Die Bildtheologie liegt nicht im Bild selbst, sondern in der Macht der Verkündigung, die aus ihm spricht.

Dieser etwas enttäuschende Passus am Ende wird bereits von Vorgrimler beinahe zwei Jahrzehnte zuvor erläutert. Für Rahner sei jede Form der Kunst, Dichtung, Malerei usw. nie in der Lage, eindeutige Aussagen zu treffen. Bilder sind vieldeutig und offen auf ihre Deutung hin, was Rahner ihnen als „metaphysische Schwäche“ anlaste.26Vgl. Vorgrimler, Theologie 597. Die neuscholastisch-thomistische Ästhetik verbindet Schönheit mit Wahrheit. Diese Universalien haben eine ontologische Qualität, d. h. eine Ästhetik der Hässlichkeit, wie sie gerade auch in der modernen Kunst immer wieder vorkommt, ist für Rahner nicht als theologiegenerativ denkbar, da das Wahre immer auch das Schöne sein müsse.27Vgl. ebd. 599.602. Doch Schönheit ist in diesem (im philosophischen Sinne) realistischen Denken immer auch präzise (clare et distincte) und dies gelingt, so die Idee, am Besten in der Sprache.

Duque und Little wenden gegen dieses Argument ein, Theologie laufe, wenn sie die offenen und öffnenden Möglichkeiten der Kunst übersehe Gefahr, prosaisch zu werden. Darüber hinaus verenge Rahner mit seiner Definition von religiöser Kunst die Freiheit der Kunst selbst und könne durch diesen Tunnelblick nicht gleichzeitig das befreiende Potenzial einer modernen Kunst erkennen. 28Vgl. Duque, Arte 151f.; Little, Anthropology 947. Dieses liege eben nicht immer in der Schönheit, sondern in der Darstellung der Begrenztheit menschlichen Denkens. Ein abstraktes Bild kann nicht durchdrungen werden.29Wendt, Karin: Überschreitungen? Überlegungen zur Deutung von Möglichkeiten und Grenzen in der Begegnung mit Kunst, in: Werntgen, Cai (Hg.): Szenen des Heiligen. Vortragsreihe in der Hamburger Kunsthalle (Verlag der Weltreligionen). Berlin 2011, 161–190, 186.

IV. Rahners Impulse einer Bildtheologie im Gespräch mit der aktuellen Diskussion

  1. Jede Form religiöser Kunst befasst sich ihrem Wesen nach mit der Frage der Darstellbarkeit des Göttlichen.
  2. Die Entwicklung einer Bildtheologie muss sich mit den anthropologischen Bedingungen der Möglichkeiten der Bildbetrachtung und –deutung befassen.
  3. Die Funktion eines Sakralbildes, sei es kultisch oder nicht, zielt auf die Ermöglichung einer Gottesbegegnung bzw. -erkenntnis ab.
  4. Eine dezidiert christliche Bildtheologie unterscheidet sich, aufgrund der Inkarnation des Logos, grundsätzlich von jüdischer und islamischer Kunst durch die immanente Gestalt des Jesus von Nazareth, in der sich Gott selbst als Motiv offenbart hat.
  5. Eine Bildtheologie entfaltet ihr volles Potenzial nicht im Bild selbst oder seiner Betrachtung, sondern erst in der verbalisierten Deutung, da das Wort Gottes Mensch wurde und somit das Wort die beste materielle Analogie bildet.

Vergleicht man diese Aspekte mit den initiativen Ausführungen von Reinhard Hoeps in dieser Zeitschrift30Hoeps, Reinhard: Gott sehen?. Erste Fragen der Bildtheologie, in: einBlick Bildtheologie 2/1 (2020) 1–4. (https://bildtheologie.de/gott-sehen/), dann gibt es zunächst einige Gemeinsamkeiten. Auch für Hoeps findet sich eine grundsätzliche Ausrichtung des Menschen hin auf Gott, die biblisch im Bedürfnis, Gott zu sehen, ausgedrückt wird (Ex 33). Ebenfalls gemeinsam ist die Unvollkommenheit der menschlichen Möglichkeiten, die Gottesbegegnung bildlich vollständig darzustellen, die sich im Bilderverbot von Ex 20 manifestiert hat.

Anders als Rahner sieht Hoeps die ikonische Differenz aber nicht als Spezifikum des Mediums bildender Kunst, sondern als anthropologische Tatsache an. Da der Mensch Gott nicht sehen oder völlig begreifen kann, wählen einige den „Umweg“ über die bildliche Darstellung und strebt dabei nach der bestmöglichen „Verschränkung von Sichtbarkeit und Transzendenz jenseits aller Sichtbarkeit“. Insofern dies ein eigener Weg zu Gott ist, handelt es sich bei bestimmten Arten von Kunst um einen eigenen locus theologicus. Sakrale Bildkunst, so verstehe ich Hoeps hier, erwächst selbst aus einer religiösen Praxis und ist kein Nebenprodukt der Verkündigung. Die Verschränkung von „Transzendenz mit sinnlich-materieller Manifestation“ und ihre Deutung in Produktion und Rezeption, entfaltet eine eigene Art von Theologie, die Bildtheologie, die in verbalisierter Form zwar beschrieben, aber nicht theologischer werden kann.

Fasst man zusammen, so ist nicht mehr alles, was Rahner vorschlug, zeitgemäß, doch kann es helfen, die beginnenden Ansätze eine Bildtheologie auszudifferenzieren. Wichtig erscheint die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten für die allgemeine und theologische Produktion, Wahrnehmung und Deutung von Bildern, die Unterscheidung zwischen sakral intendierten, sakral gedeuteten und kultisch-liturgisch verwendeten Bildern. Auch die Frage nach der Darstellbarkeit des Göttlichen und das specificum Christianum durch die Fleischwerdung Christi und die Bildsprache der Evangelien lädt zu vertiefter Auseinandersetzung und der Beschäftigung mit intermedialen Prozessen ein.

Eine zweite Stimme gegenwärtiger Forschung geht auf die protestantische Theologin und Kunsthistorikerin Karin Wendt zurück.31Wendt, Überschreitungen 161–190. Sie beschreibt zunächst phänomenologisch den erfahrungsbasierten Bezug zwischen Religiosität und Kunst:

„Eine genuine Andersartigkeit, eine nicht zufällige Abweichung von Alltagserfahrungen also, macht außer der ästhetischen die religiöse Erfahrung für sich geltend. Beide beanspruchen, ein besonders qualifizierender Prozess zu sein, also Erfahrungen der Bedeutungsanreicherung zu ermöglichen, die außerhalb des Ästhetischen beziehungsweise des Religiösen nicht zu haben sind.“32Ebd. 172.

Für sie ist in Religion und Kunst also ein anthropologischer Mehrwert zu finden, etwas, ohne dass die Menschheit ärmer wäre. Sie liest Anthropologie an dieser Stelle deutlich kulturwissenschaftlich, ergänzt aber wenige Seiten später die Kategorie der Freiheit. Religiöse Kunst ist für sie religiös gedeutete Erfahrung und diese wiederum ist, wenn sie den wahren Kern des Religiösen trifft, immer auch eine Erfahrung der Freiheit.33Vgl. ebd. 172.186. Diese Freiheit mündet in eine Pluralität von Ausdrücken, zu denen auch die moderne Kunst gehört. Sie ist, da sie nicht nur religiös intendierte Kunst hervorbringt, sich aber dennoch gerne und reichlich an der religiösen Bildwelt und ihren Motiven bedient, ein ständiges Spannungsfeld, das sich in Skandalen und breit angelegten Diskussionen entlädt.34Vgl. ebd. 173.

Anders als Rahner thematisiert Wendt religiöse Kunst nicht primär über die Darstellbarkeit des Göttlichen, sondern setzt stärker bei der Erfahrung der Menschen an. Obwohl beide hier in eine durchaus ähnliche Richtung gehen, ist ihre Grundlage für diese Annäherung von unten doch verschieden. Dies zeigt sich spätestens in der Funktion des Bildes, das für Rahner notwendig eine Gottesbegegnung ermöglichen muss, um Bildtheologie zu sein, während für Wendt (in diesem Beitrag) die Freiheitserfahrung als vermittelte Gotteserfahrung im Vordergrund steht. Auch wenn Wendt nicht dezidiert von Bildtheologie spricht, so wird doch bei ihr, in einer Linie mit Hoeps, deutlich, dass das Kunstwerk durchaus für sich selbst sprechen kann und nicht erst verbal entfaltet werden muss. Über eine spezifisch christliche Bildtheologie spricht Wendt nicht, folglich bleibt dieser Aspekt von Rahner hier unbehandelt.

V. Kritische Würdigung und Adaption

Mit Blick auf die Entwicklungen in den Kultur- und Religionswissenschaften der letzten 40 Jahre, möchte ich in diesem abschließenden Teil Rahners Aussagen noch einmal gegenprüfen und daraus abschließende Impulse für die Konzeption einer Bildtheologie formulieren:

ad 1. Rahners Religionsbegriff setzt voraus, dass jede Religion etwas Göttliches, genauer gesagt eine personifizierte Gottheit verehrt. Dies trifft zwar für die drei Religionen zu, die er bei seinen Ausführungen im Blick hat, aber nicht auf jede Denomination, die heute bekannt ist. Eine Bildtheologie müsste daher wirklich auf die religiöse Erfahrung und das Ausstrecken nach der Transzendenz in der produktiven wie rezeptiven Begegnung mit dem Bild abzielen. Also: 1. Jede Form religiöser Kunst befasst sich ihrem Wesen nach mit der Frage der Darstellbarkeit von religiös gedeuteter oder induzierter Transzendenzerfahrung (hin auf das Göttliche).

ad 2. Für Rahner und die meisten seiner hier zitierten Referenten ist die anthropologische Bedingung etwas eher Ontologisches. Die geschichtliche Wirklichkeit und sogar existenzialistische Züge treten zwar auf, doch einige Momente sollen hier noch ergänzt werden. Rahner ist noch der romantischen Kunsttheorie verhaftet, die sowohl vom Urhebergenie ausgeht als auch von der Idee der poetischen Universalsprache. Deshalb scheint es ihm durchaus logisch, dass alle Menschen Kunst gleich erkennen und deuten können – zumindest nachdem sie verbalisiert gedeutet wurde. Biblisch gesprochen hat er dabei die Sprachverwirrung von Babel (Gen 11,1-10) vergessen. Es ist keineswegs so, dass die Bildsprache oder auch nur die Motive oder Symbole eine universale Gültigkeit haben. So ist etwa die schoschana der Bibel zwar eine Lilienart, doch sie wächst nicht auf dem Feld, sondern ist eine Art des Wasserlotos. Aus diesem Grund gibt es europäische Darstellungen des Josef mit einer weißen Lilie (Feldblume), die den guten Tod symbolisiert, die gleiche Geschichte führte aber im asiatischen Raum, aus dem die biblischen Texte ursprünglich stammen, zu Darstellungen mit dem Lotos, der Blume des Lebens, weil es die jeweils lokal vorherrschende Lilienart ist. Aus dem gleichen biblischen Motiv wird ein kreatives Missverständnis, das je eine eigene theologische Bildsprache hervorbringt. Unzählige weitere Beispiele solcher Art lassen sich in der post-kolonialen Literatur und Kritik finden, die zeigen, wie plural die heutige Lebenswelt wahrzunehmen ist. Die Frage, die bei Rahner noch nicht gestellt wird, muss daher lauten, ob es eine metaphysisch-ontologische Anthropologie geben kann, die nicht bereits wesentlich plural ist. Diversifizierungen wie Bildung, Erziehung, Gender u. v. m. sind in die anthropologischen Bedingungen einzubeziehen.

Also: 2. Die Entwicklung einer Bildtheologie muss sich mit den allgemeinen wie konkreten anthropologischen Bedingungen der Möglichkeiten der Bildbetrachtung und -deutung befassen und insofern nicht nur allgemein, sondern auch wesentlich kontextuell sein.

ad 3. Rahner unterscheidet zwischen zwei Typen religiöser Bilder, dem Sakralbild und dem religiösen Bild. Das Sakralbild erfüllt eine konkrete Funktion im Glaubensvollzug und ist damit eine Sonderform des religiösen Bildes, z. B. eine Ikone. Was bisher wenig thematisiert wurde, sind die hermeneutischen Hintergründe von Produktion und Rezeption eines Bildes. Das Sakralbild, so machte Rahner bereits klar, muss als solches geschaffen und angenommen werden. Dabei spielen für ihn gnadenhafte Erfahrung (Charisma) und Inspiration der UrheberIn des Bildes ebenso eine Rolle, wie die entfaltete Wirkung innerhalb der Kirche. Setzt man dies etwas allgemeiner, so konstituieren also die religiöse Motivation, das Bild zu schaffen, und die verehrende Haltung innerhalb der Deutungsgemeinschaft (i. S. Stanley Fishs) das religiöse Bild als Sakralbild; oder, mit Umberto Eco gesprochen, das Bild muss in allen drei Intentionen (intentio auctoris, operis, lectoris) religiös erfahren sein. Damit ein Bild allgemein religiös gedeutet werden kann, so Rahner, muss es nur einmal als solches erfahren worden sein. Das Funktionieren des Bildes bestimmt sich daran, ob eine Transzendenzerfahrung gemacht wird, oder nicht. Bildtheologie ist, nach dieser Definition, in höchstem Maße subjektiv und fragil, da jedes Werk von jeder Person anders und nicht einmal zwingend religiös gesehen werden kann. Bildtheologie muss sich folglich fragen, ob sie rezeptions- oder produktionsorientiert agieren will und welche Gewichtung sie der intentio auctoris bei der Auswahl ihrer Themen geben will.

Also 3. Eine Bildtheologie, welche die Pluralität der Menschen und ihrer Meinungen und Erfahrungen zulassen kann, muss darum ringen, eine Definition für ihren Gegenstand zu finden. Dabei spielt gerade die Bewertung der Urheberschaft des Werkes (intentio auctoris) eine zentrale Rolle. Die Grundfragen lauten: Entscheidet die/der KünstlerIn im oder auch vor dem Akt der Bildschöpfung, dass das Ergebnis ein religiöses Werk sein wird? Drückt damit die schaffende Person im Bild ihre Bildtheologie aus oder aber entfaltet sie sich erst in den RezipientInnen? Sind der Schaffensprozess und die Deutung gleichermaßen (wenn auch vielleicht nicht in gleicher Weise) inspirierte und begnadete Geschehen? Und schließlich: Wie genau definiert sich die Gottesbegegnung oder Gotterkenntnis, die durch das Bild in allen seinen Phasen erreicht werden will bzw. woran erkennt man, dass sie funktioniert hat?

ad 4 und 5. Für Rahner ist klar, dass Christus das Motiv einer christlichen Bildtheologie schlechthin sein muss. Auf die Tatsache, dass auch Vater und Geist dargestellt werden oder auf die Vielzahl an verehrungswürdigen Personen, die auf Ikonen anzutreffen sind, wurde bereits hingewiesen. Seine These bereichert sicher die Frage, wie man eine christliche Bildtheologie von jener anderer Religionen unterscheiden kann. Auch sein Argument mit der Inkarnation erweist sich als weitgehend tragfähig, wenn man davon absieht, dass Sprache (vgl. Anm. xxv) selbst nur ein unvollkommenes Medium ist und deshalb nicht einfach als dem Bild überlegen betrachtet werden kann.

Einige Beispiele sollen diesen Aspekt noch verdeutlichen. Die arabische Kalligraphie als Art und Weise den Koran als Inlibration Gottes künstlerisch umzusetzen, ist zwar verbal, aber wesentlich bildhafter, als ein Gedicht oder eine Interpretation. Der Koran wird rezitiert, um die Schönheit seines gesprochenen Wortes und nicht in erster Linie die Bedeutung dieser Worte als Glaubensakt zu empfinden. Diese zwei Beispiele zeigen bereits, wie stark Sprache selbst zur Kunst werden kann. Sprache ist hier nicht rational, wie bei Rahner, sondern emotiv und ermöglicht gerade so einen Zugang zur Transzendenz. Da wir gerade im christlichen Spektrum unterwegs sind, sei auf die Parallelität dieser Beobachtung in den Bibelvertonungen Bachs hingewiesen, welche man nicht umsonst als fünftes Evangelium bezeichnet hat, weil sie einen eigenen Weg der Verkündigung darstellen.

Eine zweite Schwachstelle von Rahners Argument ist die These, Sprache sei wesentlich präziser als andere Formen menschlichen Ausdrucks. Der Fehler in seinem System ist der eine Sinn am Ende von allem. Zwar mag es eschatologisch zum Zusammenfallen aller Gegensätze im Punkt Omega kommen (Cusanus‘ coincidentia oopositorum u. T. de Chardin), doch zunächst einmal ist Pluralität und Differenz Teil der historischen Wirklichkeit. Kein Bild, sei es ein Gemälde oder ein Wort, ist strikt monosem. Die Polysemie der Sprache macht sie nicht nur mehrdeutig, sondern auch sinnoffen: es gibt nicht nur eine richtige Lesart, zumindest keine, die immanent erreichbar ist, sondern eine Vielzahl möglicher und gültiger Deutungen; Umberto Eco spricht hier vom offenen Kunstwerk. Da Gott selbst der Unbegreifliche und immer größere (Deus semper maior) ist, so muss auch jeder Versuch einer Darstellung von ihm, auch wenn es ein Kruzifix oder eine Ikone ist, notwendig hinter dem Wesen Gottes zurückbleiben. Die Offenheit des Kunstwerkes ist bei der Annäherung an Gott bzw. dem Durchbruch zu Gott aber keineswegs hinderlich, im Gegenteil: indem viele Menschen, von der KünstlerIn bis zu den RezipientInnen im Bild Teile des Gottesbildes erkennen können, ergibt sich in der so entstandenen Auslegungsgemeinschaft, insofern sie das Bild christlich lesen will, eine sowohl individuelle als auch gemeinsame Bildtheologie.

Abschließend seien noch zwei Bemerkungen zum Motiv Jesus Christus gemacht. Rahner kann, wie Vorgrimler aufzeigt, keine Hässlichkeit oder Unvollkommenheit Gottes im Bild zulassen, da das Schöne die Wahrheit ausdrückt. Wechselt man von der ontologischen auf die existenzialistische und phänomenologische Ebene, so gewinnt Schönheit eine neue Bedeutung. Der Gekreuzigte ist ein Skandalon, ein Ärgernis und mit Sicherheit nichts Schönes, außer im verklärten Kitsch. Die Größe der Erlösung wurde in der Kunstgeschichte nicht selten durch einen Jesus dargestellt, der schwach ist oder Aussatz hat, man denke nur an den Grünewald-Altar. Eine Ästhetik der Hässlichkeit scheint also durchaus angemessen, um die wahre Schönheit der Erlösung zu sehen. Dies lässt sich dann auch noch weiter aufbrechen und auf jegliche Form (moderner) Kunst anwenden, die sich selbst als religiös verstehen will, z. B. Yves Kleins Monogold (1961).

Die zweite Frage bezieht sich auf die Notwendigkeit, Gott im Christentum nur über Jesus Christus darzustellen. Die negative Theologie weiß sich seit jeher vom Gedanken des Deus absconditus angezogen. Gerade dieser Versuch Gott darzustellen, ist bei einigen bildtheologischen Arbeiten oder Reihen (z. B. von Hans Dragosits) geradezu programmatisch. Nicht in der Betrachtung Jesu, sondern im Durchbruch zum Mysterium durch die Darstellung des Numinosen liegt ein weiterer Weg zu Gott. Ob dieser sich aber noch strikt von der Kontemplation trennen lässt, wenn doch die Bildbetrachtung einem Ausgreifen in die Leere gleichkommt, wäre ebenfalls zu diskutieren. Darüber hinaus bietet die Bibel als Offenbarungsdokument und der schier unermessliche Schatz an Erfahrungen der Geschichte eine Fülle weiterer Motive, die als Wegweiser zu Gott dienen können.

Also 4. Eine dezidiert christliche Bildtheologie unterscheidet sich, aufgrund der Inkarnation des Logos, grundsätzlich von jüdischer und islamischer Kunst durch die immanente Gestalt des Jesus von Nazareth, in der sich Gott selbst als Motiv offenbart hat. Sie kennt kein striktes Verbot der Gottesdarstellung, sondern sieht sie als eigenen Weg an, wie es auch andere Religionen tun. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Jesus Christus das einzige Motiv ist, das als christlicher Weg zu Gottesbegegnung ins Bild gesetzt werden kann.

Wer mit Karl Rahner nach der Darstellung des biblischen Gottes sucht, kann die Antwort nur im Fragment finden. Am Ende bleiben mehr Fragen zur Materie der Bildtheologie als zu Beginn, die hoffentlich als Anregung zu weiterer Diskussion dienen können, und das Einstimmen in den frommen Wunsch Ijobs: „Doch ich, ich weiß: Mein Erlöser lebt, als Letzter erhebt er sich über dem Staub […] Ihn selber werde ich dann für mich schauen; meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd.“ (Ij 19,25.27)35

Ebene 1

wirklich (oder) unendlich?

Roman Opalkas 1–∞ ist sicherlich eines derjenigen Werke, das Unkundige in Ratlosigkeit versetzt, wenn sie vor einem „Detail“ stehen: Sie sehen Zahlen, aufeinanderfolgende weiße Zahlen – je nach Detail zwischen 1 und 5607249 auf einer Leinwand, 196 x 135 cm, höher und breiter als die meisten Betrachterinnen und Betrachter in ihren Körpermaßen selbst sein werden. Je größer die jeweilige Zahlenfolge eines Details ist, desto heller wird die Hintergrundfarbe des Details sein. 1965 ist es noch schwarz, ab 1972 hat Opalka dem Hintergrund jedes neuen Details je etwa 1% mehr Weiß hinzugefügt. Sieht die Betrachterin oder der Betrachter sich ein „Detail“ an, das ab 2008 angefertigt wurde, so entdeckt sie oder er nur noch weiße Schrift auf weißem Grund – Opalka spricht von „blanc mérité“1http://www.opalka1965.com/fr/statement.php?lang=en, entnommen am 01.01.2021., wohlverdientem Weiß.2Dabei geht Opalka schon früh davon aus, einmal Weiß in Weiß zu malen: „Seit 1968 nehme ich meine zählende Stimme auf Tonband auf, um mich auf das Überschreiten des Sichtbaren vorzubereiten“ (Opalka, Roman: Anti-Sisyphos. Mit einem kritischen Apparat von Schlatter, Christian, übers. v. von Gemmingen, Hubertus, Ostfildern 1994, 57).

Insgesamt wird Opalka von 1965 bis zu seinem Tod 2011 auf diese Weise 233 Details mit dem kleinsten verfügbaren Pinsel (Größe 0) bemalt haben. Nach Fertigstellung jedes einzelnen Details fotografiert er sein Gesicht vor dem angefertigten Detail. Während er malt, spricht er die Zahl, die er malt, in der Folge ihrer Ziffern in polnischer Sprache aus und nimmt dies auf Band auf. Den Pinsel taucht er in der Regel nur in den Farbtopf ein, bevor eine neue Zahl beginnt. Opalka nutzt die Leinwand vollständig aus, lässt keinen Platz am Rand.3„um keinen Raum freizulassen, der nicht Teil der einzigen logischen Struktur wäre“ (Opalka: Anti-Sisyphos 18).

„Ist das nun Komik oder Kunst?“, mag die Betrachterin oder der Betrachter sich unvermittelt fragen: Ein erwachsener Mann, der bis unendlich zählt, wirkt vielleicht wie ein Kind, das seine Fähigkeiten unter Beweis stellen will. Und für sich genommen kann die Leinwand, das Detail, auch nur befremden und für Ratlosigkeit sorgen. Was soll das? Wozu das Ganze? Sehen die Betrachtenden nicht letztlich stets das Gleiche? Ist dem Künstler nicht klar, dass sein Vorhaben nur scheitern kann? Führt die Absehbarkeit der Werkentwicklung nicht in eine vernichtende Simplizität?

Ernst genommen werden kann das Werk tatsächlich nur im Gesamt des künstlerischen Konzepts. Und zu diesem zählt, dass Opalka sein Leben 1–∞ gewidmet hat: Im Alter von 34 Jahren entschied er sich dafür zu zählen, nahm sich dafür alle ihm verfügbare Zeit, hörte damit nicht mehr auf und konzentrierte sich fortan in seinem künstlerischen Schaffen voll und ganz darauf.4Vgl. ebd., 5: „Von Anfang an war dieses Projekt von dem Bewußtsein getragen, daß ich mein Leben aufs Spiel zu setzen hatte. Ein Weg öffnete sich, gab jedoch unmißverständlich zu verstehen, daß es der Weg einer Verkörperung sei.“ Sowie ebd., 42: „Mein Unternehmen scheint meinem Selbstmord als Künstler zu gleichen. (…) Mein Konzept ist die Fortdauer und der Seinsgrund des Werkes.“

Vom Leben des Künstlers her gedeutet, entzerrt sich das komische Moment seines Werks deshalb. Nicht nur, dass seine Entscheidung unbedingte Konsequenz einfordert – man stelle sich vor, Opalka hätte nach einigen Jahren abgebrochen: Leben und Werk wären wohl gemeinsam misslungen! –, auch der im Moment ausgedrückte Standpunkt Opalkas in der Zeit qualifiziert sich zu einem Moment von Ewigkeit. „Mein Bild ist immer fertig“5Zit. nach: Rauchenberger, Johannes (Hg.): Gott hat kein Museum. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts, Bd. 3: Essays (ikon. Bild + Theologie), Paderborn 2015, 746., sagte Opalka 1997 in Graz und brachte damit zum Ausdruck, dass es gerade im Vollzug, im Hier und Jetzt, vollendet wird, sofern es im Bewusstsein des Todes reine und flüchtige Gegenwart repräsentieren und gegen eine bloß reflektierte6Opalka weist die Reflexion in ihre Schranken, indem er schreibt: „Die Reflexion ist nur in dem Maße überzeugend, als sie bereit ist, sich auf die positive oder negative Analyse sämtlicher ihr vorausgehender Aussagen zu stützen; dadurch bestätigt sie die Gültigkeit all ihrer Positionen und Postulate sowie der Gesamtheit ihrer anschließend entwickelten Theorien.“ (Opalka: Anti-Sisyphos 33). Vorstellung von Dasein aufwerten kann.7Im Sinne der Husserlschen Phänomenologie könnte deshalb das je einmalige Zählen der Zahl Appräsentation genannt werden, womit jene Gegenwart gemeint ist, die sich aus den Momenten des Vergangenen (Retention) und denen des Künftigen (Protention) konstituiert. Opalkas Malerei vollendet Zeit, indem sie geschieht. Für ihn ist Kunst „die ewige Dimension des Vergänglichen“8Opalka: Anti-Sisyphos 8., die „die Realität des Lebens“ in den Rahmen „einer seit eh und je bestehenden Suche [gestellt versteht], die sich durch endgültige Beweise nie wird abschließen lassen.“9Ebd., 20. Sie ist in diesem Sinne sowohl ‚wirklich‘ wie auch ‚unendlich‘, auch wenn sie im Falle des Opalkaschen Werks natürlich durch dessen Tod in ihrem Fortschreiten aufhört. Opalkas Kunst findet wirklich statt – allein schon, weil sie sichtbare Spuren hinterlässt –, bleibt aber unendlich, weil das Ereignis des Malens einer Zahl als ein Sich-Erstrecken auf ein paradoxerweise unbestimmbares Datum von Zeit anzusehen ist.

Wo Zeit auf ihre Vollendung durch den wirklichen Ausdruck des Unendlichen stößt, ist Gott zu vermuten. Und Opalka leugnet dies nicht: „Obgleich Agnostiker, zögere ich nicht, mich auf die Idee Gottes zu beziehen.“, fügt allerdings hinzu: „Ich befasse mich mit ihr ausschließlich aufgrund ihres Vermögens, an den Anfang das Wort zu setzen, das die Emotion des Ganzen in sich trägt. Mein Werk scheint der gleichen Logik zu folgen, insofern es eine Einheit ist, die sich auf die Totalität ihrer Erfüllung erstreckt“10Ebd., 22.. Opalka verarbeitet keinen Gottesglauben mit seinem Werk, verdeutlicht aber die Möglichkeit einer Gottesidee in konkreten menschlichen Vollzügen.

So vollzieht er einerseits im Zählen Leben, ja: sein ganzes Leben, andererseits hält er dessen vergängliche Momente im Horizont einer Unendlichkeit fest, die durch das endlose Erstrecken des Zählens in jeder Zahl enthalten ist; die Betrachterin oder der Betrachter sieht ein Fortschreiten hin zur Unendlichkeit im je einzelnen Moment des Zählens einer Zahl: „My work records the progression to infinity, through the first and the last number painted on the canvas.“11http://www.opalka1965.com/fr/statement.php?lang=en, entnommen am 01.01.2021. [Hervorhebung d. Verf.] Durch die erste und die letzte Zahl, Anfang und Ende, dokumentiert 1–∞ das Fortschreiten zur Unendlichkeit. Das Fortschreiten findet in jedem einzelnen Moment als solchem statt – und nicht bloß im Gesamt aller „Details“. Die „Idee Gottes“, sichtbar im geschaffenen Ausdruck unendlicher Totalität, wird hier sicherlich nicht einfach abgebildet, aber zur Wahrnehmungs- und Deutungs-Möglichkeit eines abgebildeten momentanen Lebensvollzugs, auf den sich die Betrachterin oder der Betrachter durch das Werk zurückbeziehen kann: Jede Zahl dokumentiert den Moment eines sich in die Unendlichkeit erstreckenden Lebens.

Deshalb lohnt es sich, nach dem Bezug von Opalkas Werk zur Moderne zu fragen. Zumindest dann, wenn von einer Moderne die Rede ist, wie der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour sie zu beschreiben vermag. Mit der Modernisierung seien Transformationsleistungen zwischen den Wissensbezirken für zunehmend unnötig befunden worden. Man könnte sagen: Etwas ist entweder wirklich (empirisch beschreibbar, zählbar) oder unendlich (religiös, im Bereich der Metaphysik zu verorten). Der moderne Mensch traue den Wissenschaften unmittelbar und direkt, weil diese einen bequemen Zugriff auf Gewissheiten böten, die das Leben erleichtern; er habe sogar Kommunikationsstile entwickelt, die Erkenntnisse singularisieren und Transformationen ausdrücklich ausweichen: ‚Die Wissenschaft hat festgestellt…‘.12Vgl. Latour, Bruno: Jubilieren. Über religiöse Rede (suhrkamp taschenbuch 2186), Berlin 2016, 34-39. Modernisierung bedeutete für Latour daher in historisierender Sicht: „Das totale Wissen war endlich in greifbare Nähe gerückt.“13Ders.: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995, 52.

Eben deshalb wirkt Opalkas Werk in einer modernen Deutung schlicht lächerlich. Opalka ist nicht ‚transformationslos‘ verständlich: Ohne „Transformationsleistung“, ergibt das „Detail“ keinen Sinn – es ist eben tatsächlich „Detail“ einer Totalität, die sich immer entzieht und je nur momentan, ereignishaft, verfügbar ist und gerade nicht etwas abbilden kann, worauf die Betrachterin oder der Betrachter unmittelbar zugreift. Deshalb ist es verständlich, wenn Opalka sein Werk in ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne stellt. So schreibt er einerseits: „Meine Haltung ist eine Provokation, insofern sie sich bemüht, das Wesen der Kunst vor den allzu häufigen modernistischen Verbiegungen zu schützen.“14Opalka: Anti-Sisyphos 50. Er scheint sich davor verwahren zu wollen, zum Beispiel im Sinne der Rationalisierung einfach Kunst schaffen zu wollen, die sich der Moderne anpasst.

„Nichts ist weiter von Produktionsnormen entfernt als diese Zählung, die keinerlei konkreten Nutzen hat: Gleichsam in mönchischer Selbstbeschränkung ausgeführt, leistet sie sich alle Exzesse der Irrationalität ihrer sozialen Position. Der aufmerksame Betrachter kann die Dimension dieses opferfreudigen Engagements deutlich erkennen, wenn er sich der physischen Intensität und moralischen Verantwortung meiner Arbeit bewußt wird. Er erfaßt deren gesellschaftliche Resonanz, sobald er wahrnimmt, daß der beträchtliche Umfang meiner Aufgabe in nichts den Zwängen des repetitiven Gestus gleicht, weder jenem der Künstler noch jenem der anonymen Fließbandarbeiter oder Angestellten. Obwohl ich mich mit ihrem Schicksal solidarisch fühle, bin ich ein aktiver Anti-Sisyphos. Ich frage nach dem Sinn des Daseins durch eine Aktion, deren repetitiver Charakter nur scheinbar ist und die allmählich das Bild eines Lebens zutage treten läßt.“15Ebd., 49.

Andererseits aber verleugnet Opalka seinen Anschluss an die Moderne nicht: „Ich ziehe die Modernität nicht in Zweifel, sie ist ein reiches geistiges Abenteuer; ich nuanciere ihre Errungenschaften Punkt für Punkt.“16Ebd., 50. Und tatsächlich drücken das konsequente Fortschreiten der Zahlen und die Einheitlichkeit des Werkes der Form nach moderne Charakteristika aus.

Genau diese ambivalente Haltung zur Moderne lässt sich wiederum mit einer Bestimmung von Latour „postmodern“ nennen: „‚Postmoderne‘ ist die Fortsetzung der Moderne, nur dass hier das Vertrauen in die Ausbreitung der Vernunft verloren gegangen ist.“17Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandorra. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Berlin 2002, 377. Opalkas Werk ist keines, das der Vernunft vertraut – es operiert mit Zahlen, berechnet aber nichts, es ist in sich dermaßen absehbar, dass es nicht entschlüsselt werden muss oder mit irgendwelchen Proportionalitäten spielte. Es knüpft an die Errungenschaften der Moderne an, aber fundamental anders als modern erwartbar wäre.

„Während die Moderne Universalität, die Verallgemeinerung, Vereinfachung, Dauerhaftigkeit, Stabilität, Ganzheit, Rationalität, die Regelmäßigkeit, die Einheitlichkeit und Angemessenheit betonte, verschieben sich die Schwerpunkte in der Postmoderne hin zu Partikularismus, Positionalitäten, Komplikationen, Substanzlosigkeit, Instabilitäten, Unregelmäßigkeiten, Widersprüchen, Heterogenitäten, Situiertheit und Fragmentierung – kurz: Komplexität.“18Clarke, Adele / Keller, Reiner (Hg.): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn, Wiesbaden 2012, 26.

In diesem Sinne vollzieht sich ein „postmodern turn“ in der Betrachtung des Werks. Hält man es im ersten durchdachten Zugriff auf das Gesehene noch für einen ernsthaft verfehlten Scherz, lichtet sich durch eine Übersetzungsleistung zwischen Leben und Werk des Künstlers die Erkenntnis, dass sich im Kunstwerk ein Leben abbildet und beide sich gegenseitig deuten, ohne deshalb gänzlich entschlüsselt werden zu können. Der Künstler überlässt es ganz und gar dem Betrachter, ihn einer modernen Lächerlichkeit seines Werkes auszuliefern oder aber sich auf die postmoderne Komplikation von Leben und Werk einzulassen: Das Detail ist „nicht nur ein Objekt zum Anschauen, sondern auch zum Betrachten, Bedenken und Verstehen des Ganzen“19Opalka: Anti-Sisyphos 54..

Es gibt für mich als Pastoraltheologen insofern etwas von Opalka zu lernen. Denn indem er aus dem Schema einer Bildleistung durch direkten Zugriff auf eine der Vernunft zugänglichen Information ausbricht, eröffnet er einen wirklichen Dialog mit dem unendlichen Ganzen. Dieser Dialog ist der Betrachterin und dem Betrachter inklusive seiner Deutung freigestellt – bis dahin, dass sich der Künstler selbst aufs Spiel setzt.

Das hält einer Pastoral den Spiegel vor, die den Anbruch des Reiches Gottes (vgl. Mk 1,15) lediglich informativ zu verkündigen versucht und die stilistischen Konsequenzen jeden Anspruchs an Verkündigung außer Acht lässt. Die Information über ein Offenbarungsgeschehen ersetzt nicht dessen Vollzug. Deshalb kann Verkündigung nur dann im ernsten Interesse am Leben – und wirklich am Leben! – des anderen Menschen bestehen, wenn sie darin einen Platz ausmacht und diesen offen lässt für das fruchtbare Wort, das von anderswoher ins Gespräch fällt: „Nur Gott spricht gültig von Gott. Daß Er spricht, ist deine Sache.“20Hemmerle, Klaus: Von Gott sprechen. Maschinenschriftlich aufbereitetes Faksimile eines Handouts, Aachen 1993, online abrufbar unter https://www.klaus-hemmerle.de/de/werk/von-gott-sprechen.html#/reader/0, entnommen am 01.01.2021. Dass Opalka Unendlichkeit nicht selbst produziert, sondern sich auf sie bezieht, ist in ähnlicher Weise eine Option für pastorale Akteure.

Neben der Freigabe des Kunstwerkes bzw. des Wortes kommt es dafür darauf an, die große Entscheidung zu treffen, das eigene Leben ins Spiel zu bringen, weil es in sich die Wirklichkeit einmaliger, unwiederholbarer, unendlicher Existenz ausdrückt: „Du kannst – einmalig sein – und deine einmalige Existenz für andere in all deinen Entscheidungen aufs Spiel setzen.“21 Theobald, Christoph: Hören, wer ich sein kann. Einübungen, hg. v. Feiter, Reinhard / Müller, Hadwig (Bildung und Pastoral 5), Ostfildern 2018, 62. Wer solche Gewissheit lebt, kann sich ganz und gar berufen fühlen, ein sinn-volles Leben zu leben. Die Einmaligkeit des Lebens muss sich dann auch nicht erst daran erweisen, dass es etwas Neues oder Nützliches darstellt; das Leben bleibt in jedem Fall bedeutungsvoll. So erweist es auch Opalka in seinem Werk: „Das Neue in der Kunst ist meines Erachtens eine Eitelkeit, die ich in einer nutzlosen, doch höchst bedeutungsvollen Tätigkeit entlarven möchte.“22Opalka: Anti-Sisyphos 47.

Und schließlich wird damit jede einzelne Ziffer, jede noch so kleine Entscheidung im Leben relevant. Wie bei Opalka jede Zahl, so bringt das Leben in jeder Handlung das Ganze zum Vorschein. Jede kleine Entscheidung mag dabei sogar gleich aussehen, ist im je neuen Moment aber je anders. Von allem, was ich tue, hängt ab, wer ich bin. Es gibt keine unwichtige Entscheidung mehr.

Noch einmal: Kommt hierdurch Gott ins Spiel? Das ist immer noch nicht gewährleistet. Es wäre im Gegenteil wohl eher anmaßend zu meinen, irgendjemand könnte das gewährleisten. Aber es bleibt möglich – ja, sogar dann wahrscheinlich, wenn es Ereignisse und Erfahrungen von Unendlichkeit im Leben gibt, die dadurch wirklich sind, dass man sie erlebt und deshalb womöglich über sie spricht. Oder sie eben malt.

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Gott hat kein Museum

Beschäftigt man sich mit kirchlichen Museen und ihren Präsentationskonzepten, so führt kein Weg an dem Werk „Gott hat kein Museum“ von Johannes Rauchenberger vorbei.1Vgl. Rauchenberger, Johannes: Gott hat kein Museum | No Museum Has God. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts | Religion Art in the Early 21st Century“, Bd. 1–3. Paderborn 2015. In dem 2015 erschienenen dreibändigen Werk entwirft der Kunsthistoriker und Theologe ein virtuelles Museum, welches Kunst – dem bildtheologischen Verständnis entsprechend – als Medium der Rede von Gott versteht und fragt, wie Religion in der Kunst der Gegenwart vorkommen kann.2Vgl. Rauchenberger: Gott hat kein Museum 1 4.

Strukturiert ist dieses Museum, welches sich nicht als Gebäude, sondern in Werken realisiert, in zehn imaginäre Räume mit unterschiedlichen Fragestellungen.3Vgl. ebd. VIII. Innerhalb dieser Räume wird eine Betrachtung verschiedener Werke in Kombination mit Einführungstexten, Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern und vertiefenden Essays geboten.4Vgl. ebd. IX. Entstanden ist das Projekt aus einer Sammlung bereits gezeigter Werke, wodurch sich Orte der konkreten Präsentation ergaben.5Vgl. ebd. IX. Teile des virtuellen Museums wurden im Programm des Kulturzentrums bei den Minoriten – abgekürzt KULTUM – realisiert.

Das Kulturzentrum ist ein Mehrspartenhaus für zeitgenössische Kunst, Gegenwartskultur und Religion im Kloster Mariahilf in Graz. Es wurde 1975 von Bischof Johann Weber gegründet und ist heute zum Teil in kirchlicher Trägerschaft. Das KULTUM ist ein Ort des Diskurses für Gegenwartsfragen und Religion und wird seit 1999 von Johannes Rauchenberger geleitet.6Vgl. Rauchenberger, Johannes: Das KULTUM …, URL: https://www.kultum.at/einrichtung/137/kulturzentrum/kultum_allgemein, abgerufen am: 18.07.2020. Nicht nur Teile des beschriebenen virtuellen Museums, sondern auch zusammenhängende Ausstellungen werden im Kulturzentrum gezeigt.7Vgl. Rauchenberger: Gott hat kein Museum 1 4. „Gott hat kein Museum“ ist für diese Auseinandersetzung mit Religion in der Kunst des beginnenden 21. Jahrhunderts die leitende These.

Wir haben uns jener Behauptung zusammen mit Johannes Rauchenberger während eines Besuchs des KULTUM in Graz genähert. Warum hat Gott kein Museum? Kann man Gott in der (Gegenwarts-)Kunst vorfinden? Warum kann kein Museum Gott fassen?

Cover von RAUCHENBERGER, JOHANNES: Gott hat kein Museum | No Museum Has God. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts | Religion Art in the Early 21st Century“, Bd. 1–3. Paderborn 2015. Ein Ausschnitt der Installation „SO WHAT“ (2011) der Künstlerin Maaria Wirkkalas ziert das Titelbild des Werkes „Gott hat kein Museum“. Flucht ist das Motiv der auf einem Drahtseil den Innenhof des Grazer Minoritenklosters überquerenden Tiere. Ihr Ziel ist der Raum „ESCAPE“ am Ende des Drahtseiles. In diesem Raum gibt ein geöffnetes Fenster den Blick auf zahlreiche Engel vor dem Nachthimmel frei – vervielfältigte und auf eine Tapete gedruckte Kinderzeichnungen der Künstlerin. „Der Blick des Kindes und seine Sicht des Himmels wird hier zur Anleihe für die Bewältigung von Not und für den Trost nach der Flucht: beim »Entkommen« hilft dieses Gold-Geschwader aus der Vorstellungswelt eines kleinen Mädchens.“ (Rauchenberger: Gott hat kein Museum 1 145f.)

Museen sind in erster Linie Präsentationsräume für Kunst. Kunst kann elementare Erfahrungen durch Staunen oder Hinterfragen hervorrufen. Kunst ist ästhetisch erfahrbar. Kunst kann als kulturelle Äußerungsform wahrgenommen werden. Doch inwiefern kann Kunst mit Gott zusammenhängen oder eben nicht zusammenhängen? Können auch religiöse Erfahrungen durch Kunst hervorgerufen werden? Kann Gott in der Kunst vorkommen und im Museum zu finden sein?

Wolfgang Schöne behauptet, der christliche Gott habe im Abendland eine Bildgeschichte gehabt, inzwischen sei diese jedoch abgelaufen.8Vgl. Schöne, Wolfgang: Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst, in: Howe, Günter (Hg.): Das Gottesbild im Abendland. Mit Beiträgen von Wolfgang Schöne, Johannes Kollwitz, Hans von Campenhausen. Berlin 1957, 7–56. Was könnte dazu geführt haben, dass die Bildgeschichte Gottes vergangen ist? Ist Kunst immer säkularer geworden?9Vgl. Rauchenberger: Gott hat kein Museum 1 6. Kann sich das Christentum nicht mehr adäquat in den heutigen Bilddiskurs einbringen?10Vgl. ebd. 6-7. Ist christliche Kunst lediglich museal anerkannt, herausgerissen aus ihrem eigentlichen Zusammenhang, ein Teil eines ehemals Ganzen11Vgl. Kathan, Bernhard: Zur Zukunft von Diözesanmuseen: Erlebniskultur oder Konfliktorientierung, in: Das Münster: Kirchliche Museen und Schatzkammern 2 (2003), 115. und daher losgelöst von einer christlichen Bildgeschichte, von Religion?

Johannes Rauchenberger widerspricht der These einer abgelaufenen Bildgeschichte Gottes. Aus der christlichen Inkarnationsvorstellung folgt seiner meiner Meinung nach die Notwendigkeit einer Bildtheologie und einer andauernden Bildgeschichte Gottes.12Vgl. Hoeps, Reinhard: Jenseits der Nostalgie. Was ist Bildtheologie?, in: Herder Korrespondenz Spezial: Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste 1 (2012), 31. Die Religion entwickle dadurch ein weitertreibendes Bildmoment: „Gäbe es nicht heutige Bilder, die die Bildgeschichte Gottes aktualisieren, dann wäre diese Religion kulturell tot und die These vom ‚Ablauf der Bildgeschichte Gottes‘ hätte gestimmt.“13Bucher Trantow, Katrin / Rauchenberger, Johannes / Steiner, Barbara: Glaube Liebe Hoffnung. Zeitgenössische Kunst reflektiert das Christentum (ikon). Paderborn 2018, 92.

Der Leiter des KULTUM versteht Musealisierung nicht als eine Sammlung von Werken, die ansonsten verlorengehen würden, sondern als ein Ausschauhalten nach Ereignissen und Erfahrungen, die sich in der Gegenwart ereignen.14Vgl. Rauchenberger: Gott hat kein Museum 1 10. Ein kirchliches Museumskonzept müsse versuchen, den Prozess des Dialoges zwischen Kunst und Kirche immer wieder neu zu beleben. Musealisierung sei in diesem Sinne ein „Akt der Gegenwart“.15Vgl. ebd. Wenn man die „abgelaufene Bildgeschichte“ mittels einer Kontrasterfahrung, hervorgerufen durch autonome Gegenwartskunst, wahrnehmen könnte, so könne die ästhetische Erfahrung als Übersetzung fungieren.16Vgl. ebd. 9. Kein Museum kann Gott fassen, aber Kunst kann im Austausch religiös-ästhetische Erfahrungen hervorrufen:

„Christliche Vorstellungen sind im Museum zunächst einmal Darstellungen, in Bildwerken materialisierte Vorstellungen. Der anvisierte Dialog basiert also darauf, daß Werke in einen Gesprächszusammenhang gerückt werden, und zwar die gastgebenden Werke der vorhandenen Sammlung mit den gebetenen Gästen von außerhalb. […] Ein von außen hereingeholtes Kunstwerk der Moderne sollte die Kraft entwickeln, die vorhandenen, oft eben in den überkommenen Sehkonventionen abgesunkenen Schätze so zu beleuchten und zu beleben, daß sie ihren Ruhestand als historische Dokumente überwinden und als Gesprächspartner in dem, was uns heute bewegt, präsent werden.“17Stock, Alex: Bilderfragen. Theologische Gesichtspunkte (IKON. Bild + Theologie). Paderborn 2004, 87.

In der Moderne trennt sich die Kunst von der Kirche. Doch dieses Desiderat, das vermeintliche Ende der christlichen Bildgeschichte, hat eine solch ästhetische Dimension, dass es zur Grundvoraussetzung moderner Bildtheologie wird: Kunst als Medium der Rede von Gott.

Mit der Inkarnation wird die Unsichtbarkeit und Undarstellbarkeit Gottes in Jesus Christus überwunden. Christus sei „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15 EÜ), ein Bild, welches sein unsichtbares Urbild vergegenwärtigt.18Vgl. De Santis, Andrea: Denkbilder. Zum Wechselspiel zwischen Erscheinung und Wahrnehmung (IKON. Bild + Theologie). Paderborn 2013, 178. Die Unsichtbarkeit Gottes manifestiert sich im Gegenteil, im Sichtbaren. Durch Christus gewinnt die Bildwerdung Gottes ikonische Qualität.19Vgl. Stoellger, Philipp: Das heilige Bild als Artefakt. Die Latenz in der Produktion von Präsenz, in: Dohmen, Christoph / Wagner, Christoph (Hg.): Religion als Bild. Bild als Religion (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 15). Regensburg 2012, 207f. Bilder werden „zum Ort der anschaulichen Vergegenwärtigung dessen, der sich dem menschlichen Blick entzieht, sich gerade darin aber in seiner Gegenwart unter den Menschen zeigt.“20Hoeps, Reinhard: Gott sehen? Erste Fragen der Bildtheologie, in: einBlick Bildtheologie 2/1 (2020), 2. Das Abbilden der Gottebenbildlichkeit wird durch die Menschwerdung Gottes möglich. Zugleich wird die Negation des Bildes – also die Unsichtbarkeit Gottes – zur Voraussetzung einer andauernden Bildgeschichte Gottes. Die Kunst der Gegenwart löst sich von religiösen Vorstellungen und ikonographischen Motiven. Dadurch gelangt das Bild als ein Leitmodell der Theologie nicht an ihr Ende, sondern gewinnt eine neue Dimension.21Vgl. ebd. 3. Die Verbindung zwischen bildlicher Vorstellung und theologischer Reflexion ermöglicht einen Dialog zwischen Religion und Kunst.

„Nicht mehr die bisherigen bekannten Codes religiöser christlicher Kunst konnten als Merkmale einer Ars religiosa weiterhin kenntlich gemacht werden, sondern eine allgemeine Transzendenz, eine frei flottierende Spiritualität […].“22Rauchenberger: Gott hat kein Museum 1 29.

Zeitgenössische Kunst reflektiere demnach das Christentum. Sie ermögliche Nachdenken, kritisches Hinterfragen, Widerspiegeln, die Abstraktion der eigenen Wahrnehmung und Vorstellung. Rauchenberger sieht die Kunst als Teil einer gesellschaftlichen Debatte und eines kritischen Diskurses. Ihm geht es nicht darum, mit seinen Ausstellungen ein Ergebnis auf die Frage, wie Religion in der Kunst der Gegenwart vorkommen kann, zu präsentieren. Vielmehr können Museen und Ausstellungsräume Orte sein, die es ermöglichen, durch Kunst eine Begegnung und Auseinandersetzung mit der Kirche, dem eigenen Glauben und Gott hervorzurufen.

Der Titel „Gott hat kein Museum“ macht Rauchenbergers Auffassung deutlich: Kein reales Museum kann Gott jemals genügen. Ihm sollte vielmehr ein Museum gewidmet werden, in dem die moderne Kunst Gott nicht vollumfänglich darstellt, sondern in dem der Betrachtende durch ikonographische Motive in Werken der Gegenwart zur Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben angeregt wird.23Vgl. ebd. 9.

Kein Museum kann Gott fassen. Nicht etwa, da die Bildgeschichte Gottes abgelaufen ist, sondern weil religiös-ästhetische Erfahrungen nur dann hervorgerufen werden, wenn Kunst und Kirche in einen Dialog treten. Museen können zu einem Ort der Rede von Gott werden, doch lediglich die Kunst vermag es in diesem Zusammenhang, das Medium der Rede von Gott zu sein. Gott kann in der (Gegenwarts-)Kunst vorgefunden werden. Musealisierung ist für Johannes Rauchenberger ein „Ausschau halten [nach etwas,] was sich in der Gegenwart ereignet“.24Ebd. 4. Wenn Kunst Teil eines gegenwärtigen Dialoges ist, können ästhetische Erfahrungen dazu beitragen, dass Kunst als Medium der Rede von Gott erkannt wird. Die durch die Negation des Bildes hervorgerufene Offenbarung ermöglicht eine andauernde Bildgeschichte Gottes, welche es mit Hilfe der Gegenwartskunst gilt, zu aktualisieren.

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Worüber hinaus Größeres nicht geschaut werden kann

Das Projekt einer Bildtheologie ist von seiner gesamten Struktur her dem theologischen Topos des Bilderverbotes ausgesetzt. Die Spannung zwischen der Transzendenz göttlicher Wirklichkeit, der aus dieser resultierenden Unmöglichkeit figurativer Darstellung Gottes und dem gleichzeitigen Bedürfnis des Menschen, durch visuelle Repräsentation das Gefühl einer Gegenwärtigkeit Gottes zu unterstützen, hat in vielen Kulturkontexten zu einer dynamischen Bewegung zwischen Bilderverboten, neuen Bildkulten und anikonischen Darstellungsweisen geführt. Speziell letztere besitzen einen ästhetischen Charakter, der in weiten Teilen von der theologischen Forschung wenig behandelt wurde. Dieser Artikel versucht einen Beitrag zur Frage nach der Sinnhaftigkeit und der bildtheoretisch ästhetischen Hermeneutik anikonischer Darstellung zu leisten. Dabei soll versucht werden, die anikonischen Darstellungsweisen des Bundesgottes JHWH zunächst mit ihren Spiegelungen im Neuen Testament, daraufhin aber auch mit der im westlichen Diskurs oftmals unbekannten anikonischen Darstellungsweise des Buddha ins Gespräch zu bringen. Dabei soll nicht aufs Neue die theologische Relevanz und Struktur des alttestamentlichen Bilderverbotes detailliert ausgearbeitet werden.1Dies wurde bereits hinreichend geleistet. Vgl. vor allem Dohmen, Christoph: Studien zu Bilderverbot und Bildtheologie des Alten Testaments, Stuttgart 2012. Es geht zu Anfang lediglich darum, (I.) einige Strukturmomente und Begründungsversuche anikonischer Darstellungsform im hebräischen Kulturraum aufzugreifen, um anschließend (II.) mit Berücksichtigung einer spezifischen ästhetischen Anschauung ihre neutestamentliche Reflexion aufzuführen. Hieraus werden dann (III.) einige ästhetische Fragestellungen theologisch aufgegriffen und Überhangprobleme formuliert, die sich vor allem aus dem Spannungsfeld von ikonischer und anikonischer Darstellung ergeben. Diese werden daraufhin (IV.) durch die anikonische Darstellung des Buddha im frühen Buddhismus und ihre spezifische buddhologische Bedeutung von einer Außenperspektive betrachtet, aus der dann (V.) im Rückbezug spezifische ästhetische Sichtweisen anikonischer Darstellungen diskutiert werden können.

Das Ziel dieses Beitrags ist es also, durch den Einbezug der buddhistischen Perspektive einen neuen Blick auf die Spannungsmomente zu gewinnen, die sich bei einer genauen Analyse des bildtheologischen Anliegens im Zusammenhang mit dem Bildervorbot und der anikonischen Darstellung ergeben.

Die Perspektive des Autors ist dabei die eines katholischen Theologen, dessen Forschungsfeld in der Fundamentaltheologie und der Komparativen Theologie angesiedelt ist. Es wird und kann nicht mein Ziel sein, neue buddhologische Erkenntnisse zu generieren. Meine Ausführungen beziehen sich im buddhistischen Teil auf den aktuellen Stand der kulturwissenschaftlichen Forschung. Meine Gedanken haben sich jedoch ebenfalls in einem langjährigen Austausch mit verschiedenen buddhistischen Traditionen und auf ausgiebigen Forschungsreisen entwickelt. Meine Arbeitsweise folgt der gängigen Methode Komparativer Theologie, wie sie vor allem von James Fredericks und Francis Clooney entwickelt und von Klaus von Stosch in den Europäischen Kontext weitergeführt wurde.2Von Stosch, Klaus: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 22017, 138–148.

I. Grundmuster des alttestamentlichen Bilderverbotes

Historisch betrachtet war es nicht etwa die hebräische Kultur, aus der sich das Bilderverbot entwickelt hat, sondern es war der ägyptische Pharao Echnaton, der den ältesten bisher bekannten Bildersturm in seinem eigenen Reich veranlasste.3Vgl. hierzu vor allem Assmann, Jan: Die „Häresie“ des Echnaton. Aspekte der Amarna-Religion, in: Saeculum 23 (1972), 109–126. Dieser hatte jedoch keinen tatsächlich anhaltenden Ikonoklasmus der ägyptischen Religiosität zur Folge. Die Ägypter blieben ihren Göttern und den bildhaften Darstellungen treu. Die Abgrenzung, die Echnaton ca. 1350 vor Christus vollzog, war jedoch, genau wie diejenige der israelisch hebräischen Kultur ca. 600 Jahre später, eine Abgrenzung nach Innen und Außen. Sie wendet sich gegen einen Götterkult, der integrativ zur Verehrung zahlreicher Gottheiten neigt, die in ihren jeweiligen Qualitäten jeweils verschieden figurativ abgebildet wurden, hin zur Verehrung eines Gottes, der in seiner Einmaligkeit alle Darstellungen übersteigt, wie sich dies unmissverständlich im Sonnengesang des Echnaton ausdrückt.4Für eine Übersetzung vgl. Schlögl, Hermann Alexander: Echnaton – Tutanchamun. Daten, Fakten, Literatur, Wiesbaden 41993, 112–113. Waren es vor Echnaton noch einzelne Gestalten, wie die Göttin Maat, der Gott Seth und zahlreiche andere personifizierte und hypostasierte Aspekte, die den Sonnenzyklus in seiner Wandlung und Dynamik hervorriefen, so stellt sich im Sonnengesang zum ersten Mal die Anbetung eines einheitlichen Gottes dar, der nicht mehr durch figurative Darstellungen repräsentiert wird, sondern alleine als Licht der Sonne sich auf der Erde offenbart.5Vgl. zur Darstellung des Sonnengesangs vor allem Assmann: „Häresie“ 109–126. Dieser für seine Zeit radikale Umsturz der religiösen Ordnung hatte zur Folge, dass nahezu alle Tempel geschlossen und die figurative Darstellung von Gottheiten untersagt wurde. Die Radikalität Echnatons führte jedoch auch zum Niedergang seiner Angestrebten Reform. Der Götterkult kehrt nach Ägypten zurück und die Tempel wurden wieder geöffnet.

Obwohl sich die Reform Echnatons in Ägypten nicht durchsetzte, hielt der Einfluss ihres Grundgedankens an und übertrug sich in den hebräischen Kulturraum, wie sich vor allem im Psalm 104 zeigt, der die Gedanken des Sonnengesangs Echnatons weitreichend aufnimmt. Im Psalm 104 zeigt sich außerdem der direkte Zusammenhang des monotheistischen Gedankens und dem Bilderverbot. Weil Gott nun nicht mehr ein einzelner Aspekt ist, sondern in seinem Wesen die Ursache von allem, kann er auch nicht mehr als einzelner Aspekt dargestellt werden. Weiter ergibt sich eine Logik der Durchsetzung des monotheistischen Gedankens: Der Übergang von der Verehrung vieler Götter zur Verehrung eines Gottes braucht als ersten Schritt die Negierung aller bildlichen Darstellungen unterschiedlicher Götter, weil diese die polytheistische Idee in einer Form von visueller Selbstevidenz aufrecht erhalten. Sind die jeweiligen figurativen und bildlichen Darstellungen verdrängt, können sprachlich lexikalische Differenzen viel leichter moderiert und inklusiv verarbeitet werden.6Zur Ablehnung des Bildes als „polyvalenter Träger religiöser Ideen“ vgl. Dohmen: Bilderverbot 88.

So ging auch die hebräische Entwicklung zum Monotheismus mit einem Bilderverbot einher. Die zentrale Erzählung, um die sich das biblisch hebräische Bilderverbot aufbaut, ist die Sinai-Perikope.7Ebd., 80–84. In ihr zeigen sich zunächst zwei deutliche Parallelen zur ägyptischen Götterbildverehrung und dem Versuch der Überwindung: Das Bilderverbot richtet sich zunächst nach innen und dient nicht einer Abgrenzung zu anderen Volksstämmen, die im Gegensatz zur eigenen Tradition Bilder verehren.8Für den Nachweis der Existenz von Götterbildverehrung vgl. vor allem Schroer, Silvia: In Israel gab es Bilder. Nachrichten von darstellender Kunst im Alten Testament, Freiburg/Göttingen 1987. So berichtet die Erzählung, dass Mose für 40 Tage auf dem Berg Sinai verschwand und das Volk nicht mehr mit seiner Wiederkunft rechnete. Aus dem Reflex der Herstellung eines Götzenbildes, wie ihn die Perikope berichtet, lässt sich auf die ursprünglich polytheistische Praxis von Gottesbildverehrungen in der hebräischen Bevölkerung selbst schließen.

Der Umstand, dass die Statue eines goldenen Kalbes hergestellt wurde, weil Mose als ursprünglicher Mittler zum Bundesgott JHWH fernbleibt, lässt Rückschlüsse auf eine zweite analoge Struktur zu: Die Gottesbilder wurden aufgestellt, um die Gegenwart göttlicher Kräfte zu vermitteln und aufrecht zu erhalten.9Vgl. zu diesem Gedanken und seiner Analogie im ägyptischen Denken Assmann, Jan: Du sollst dir keine Bilder machen. Bedeutung und Kontext des Zweiten Gebots, in: Scheib, Christian / Sanio, Sabine (Hg.): Bilder-Verbot und Verlangen in Kunst und Musik, Saarbrücken 2000, 13–26. Da Mose als Mittler fernblieb, wurde versucht, das Vakuum durch ein Götzenbild zu ersetzen.

Die gesamte Darstellung weist jedoch darauf hin, dass es im Verbot von Bildnissen nicht darum geht, „das prinzipielle Unvermögen von Bildern, Gottesnähe zu gewährleisten“10Ebd., 16. herauszustellen, sondern genau um das Gegenteil. Das Bilderverbot erkannte die Macht des Bildes, zumindest für den Menschen eine Präsenz Gottes gefühlsmäßig erfahrbar zu machen.11Vgl. zu diesem Gedanken Hoeps, Reinhard: Aus dem Schatten des goldenen Kalbes. Skulptur in theologischer Perspektive, Paderborn u. a. 1999, 13. Aus diesem Vermögen von Bildern und allgemeinen Bildnissen folgte jedoch ein immer stärker wachsendes Spannungsvermögen zum Transzendenzgedanken des Bundesgottes JHWH, der sich nun nicht mehr reduzieren ließ auf ein konkretes Bildnis, weil er jede Form überstieg. Als das, was jede Form übersteigt, widersetzt sich der Transzendenz betonende Gottesgedanke des Volkes Israel dem auch in ihm anwesenden Bedürfnis, die Gegenwart Gottes in Bildnissen ansichtig zu machen.

Historisch entwickelte sich das Bildverbot im hebräischen Kulturraum grob gezeichnet in drei Schritten12Dohmen: Bilderverbot 189–192.: Zunächst waren nomadische und halbnomadische Kulturkreise im Mittelmeerraum oft von einem anikonischen Kultus geprägt. Zwar findet sich selten eine geforderte Bildlosigkeit, doch kann damit gerechnet werden, dass sich in diesen nomadischen Kontexten eine Form von Präsenztheologie entwickelt hat, die sich über verschiedene Stufen zu anikonischen Darstellungen im Kultus, wie der des Ladenkultes und des freien Raumes zwischen den Flügeln der Seraphim im Tempel entwickelt hat.

Die Formen anikonischer Darstellungen boten einen Raum, in dem sich die Verbreitung der Monolatrie, zunächst inklusiv, dann ausschließend, leicht vollziehen konnte, da sich ohne ein konkretes Bild die vielleicht konzeptionell vorhandenen Differenzen leichter überwinden ließen, weil sie sich nicht visuell evident ausdrückten. So bildet die anikonische Darstellungsweise auch eine gute Übergangsfunktion von der Monolatrie zum Monotheismus, der sich in etwa zwischen 800 und 700 v. Chr. ansetzen lässt.13So zumindest Bernhard Lang, der ebenfalls den im israelischen Kontext vorherrschenden Vielgötter-Kult beschreibt und davon ausgeht, dass sich dieser durch den ständigen Kriegszustand und der Anrufung JHWHs als Kriegsgott entwickelt hat. Vgl. vor allem Lang, Bernhard: Jahwe, der biblische Gott. Ein Porträt, Darmstadt 2002, 229–234. Die Verstärkung der beiden Momente der bildlosen Verehrung und des sich immer stärker durchsetzenden Monotheismus bedingen sich dabei wahrscheinlich gegenseitig, da beide Anschauungsweisen kompatibel sind.

Aus dieser Bedingtheit scheint eine Dynamik erwachsen zu sein, die zu einer immer stärker zunehmenden Polemik gegen Bilderverehrung im religiösen Kult geführt hat, der in der biblischen Überlieferung in der Person Hoseas kumuliert. Dieser führt die Verwerfung des Volkes durch JHWH primär auf die Verletzung des ersten Gebotes zurück (vgl. Hos 4,3), welches unmittelbar mit dem zweiten Gebot zusammenhängt und somit bei Hosea auch zu einer sehr frühen expliziten Bildkritik führt.

Betrachtet man die dargestellte Spannung zwischen dem Verbot von Bildern und Bildnissen im Kult einerseits und dem Bedürfnis der Darstellung göttlicher Präsenz andererseits, gelangt man zum Modell der anikonischen Darstellung als Kompromiss, wie er sich dann im Zuge der JHWH-Alleinverehrung auch durchgesetzt hat. Die anikonische Darstellung präsentiert kein konkretes Bild mehr, das den Bundesgott selbst in einer Form von Einschränkung präsentieren würde, sondern einen Raum, der eine Form von Umrahmung aufweist, in welcher die Präsenz JHWHs im leeren Raum angezeigt ist. Diese setzt sich bereits unter König Salomo durch, der im Tempel die anikonische Darstellung im eingefassten Raum von vier Cheruben-Flügeln für den Tempelkult adaptierte. Was sich hier zeigt, ist theologisch bemerkenswert, und es ist, bei aller Vorsicht, Keel recht zu geben, der diese Darstellung tatsächlich dem apophatisch geheimnishaften Charakter der hebräischen Gottesvorstellung zuschreibt.14Vgl. zur Diskussion der These Keel, Othmar: Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4, Stuttgart 1977, 23. Diese übernimmt die Heiligkeit des leeren Raumes zwischen zwei Cheruben auf der Bundeslade aus dem ägyptisch-sumerischen Kulturraum, wo er parallel als leerer Raum zwischen zwei Sphinxen eine analoge Funktion erfüllt. Die beiden Cheruben im salomonischen Thron schützen mit ihren Flügeln nicht etwa das Heilige, sondern sie tragen es.15Ebd., 29. Diese Einsicht führt direkt zurück auf die Darstellung der Bundeslade, die ebenfalls eine Tragevorrichtung darstellt, auf der der Bundesgott JHWH vor dem Volk getragen wurde. In dieser Funktion kommt etwas Typisches für die anikonische Darstellung zum Vorschein: Durch Handlungen oder Rahmungen wird eine Präsenz verdeutlicht, die jedoch nicht physisch bildhaft fixiert wird. Im Fall der Lade ist es das Tragen JHWHs und der Rahmen der beiden Cheruben. Das, was getragen wird, ist als das Nicht-Darstellbare, weil über alles Darstellbare Hinausweisende, dargestellt und somit in seiner umfassenden Geheimnishaftigkeit dem Betrachter vor Augen geführt. Etwas, das Sichtbar ist, macht das sichtbar, was nicht sichtbar ist.16Schon hier zeigt sich eine Analogie zu einer Form der regulativen Idee dessen, was nach Anselm größer ist, als gedacht werden kann. Theologische Gedanken sind ja gerade auf der Grundlage dieser Methodik nicht verboten, sondern Sie dienen als Einrahmung dessen, auf was sie weisen, ohne es explizit in Worten ausdrücken zu können oder zu dürfen.

II. Spiegelung des Gedankens im neuen Testament

Um die Spiegelung des alttestamentlichen Bilderverbotes und der anikonischen Darstellung im Neuen Testament aufzugreifen, eignet sich besonders die Areopagrede des Paulus (Apg 17,16–34). Diese beginnt zunächst damit, dass es Paulus den Atem nimmt (παρωξύνετο), als er bei einem Stadtrundgang durch Athen die Stadt mit Idolen (κατείδωλον) vollgestellt vorfindet. In der Konfrontation mit lokalen Intellektuellen versucht Paulus jedoch zunächst diplomatisch aufzuzeigen, dass die Griechen von der Grundstruktur denselben Glauben verfolgen, wie den, den er verkündet. Dafür verweist er auf eine Altarsüberschrift, die da lautet: „Einem Unbekannten Gott“ (Ἀγνώστῳ θεῷ). Dieser Unbekannte Gott sei genau der Gott seines Bekenntnisses, so Paulus zu den philosophisch wahrscheinlich ausgebildeten Intellektuellen in Athen. Dieser Gott sei unbekannt, weil er die Größe bildet, in der wir als Menschen leben, uns bewegen und in der wir sind (ἐν αὐτῷ γὰρ ζῶμεν καὶ κινούμεθα καὶ ἐσμέν). Doch gerade aus diesem Grund, so Paulus, geht es gänzlich fehl, diese Größe auf Götzenbilder zu reduzieren. Paulus sagt aber noch mehr. Weil wir uns in Gott bewegen, dürfen wir nicht meinen, dass es recht sei, ihn als menschengemachtes Gebilde zu verehren.17Apg 17,29: γένος οὖν ὑπάρχοντες τοῦ θεοῦ οὐκ ὀφείλομεν νομίζειν χρυσῷ ἢ ἀργύρῳ ἢ λίθῳ, χαράγματι τέχνης καὶ ἐνθυμήσεως ἀνθρώπου, τὸ θεῖον εἶναι ὅμοιον. Der hier von Paulus angeführten Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt also gerade der Fehlschluss zugrunde, dem die Griechen in Athen mit den Bildnissen verfallen sind. Doch warum? Liegt hier nicht eine Steilvorlage? Gerade weil der Mensch von Gottes Art ist, ist es da nicht gerade recht, dass er seine Schöpferkraft nutzt, um Bildnisse zu schaffen, die zur Verehrung dienlich sind? Und müssen diese nicht gerade dem Menschen ähnlich sein, wenn dieser nach dem Bild Gottes geschaffen wurde?

Der Gedanke der anikonischen Darstellung des Bundesgottes JHWH wird hier in gewisser Weise gespiegelt. Der leere Altar übernimmt die Funktion der Rahmung, die im hebräischen Kontext die Cheruben übernommen haben. Die Überschrift „Dem unbekannten Gotte“ weist ebenfalls darauf hin, dass auf dem Altar eine Anwesenheit präsent ist, die alles Darstellbare transzendiert und somit nur als das Undarstellbare dargestellt werden kann. Die Ausführungen Pauli weisen ebenfalls auf die Logik: Das, worin wir sind, kann nicht reduziert werden auf etwas dinglich Eingeschränktes, weil es allem dinglich Eingeschränkten vorausliegt.

Thomas von Aquin nimmt in seinem Römerbriefkommentar die Areopagrede auf und macht das Argument des Paulus nochmals zugänglicher. Das, was Gott ist, ist dem Menschen unbekannt. Alles, was dem Menschen bekannt ist, basiert auf der Basis ihm konaturaler Sinneseindrücke und deren Verarbeitung. Das menschliche Wesen ist aber gerade nicht dazu proportioniert, das Sein Gottes selbst zu fassen.18„Sciendum est ergo quod aliquid circa Deum est omnino ignotum homini in hac vita, scilicet quid est Deus. Unde et Paulus invenit Athenis aram inscriptam: ignoto Deo. Et hoc ideo quia cognitio hominis incipit ab his quae sunt ei connaturalia, scilicet sensibilibus creaturis, quae non sunt proportionata ad repraesentandam divinam essentiam.“ Rom. cap. I, lec. VI.

Doch das Neue Testament fügt dem Bildgedanken eine neue Dimension hinzu, die deutlich wird, wenn man die paulinische Aufnahme des Bilderverbotes in Kol 1,15–20 einbezieht. Das Motiv der Areopagrede wiederholt sich hier dahingehend, dass Gott weiter der Unsichtbare bleibt. Er wird aber gerade in Christus als Bild des Unsichtbaren Gottes (εἰκὼν τοῦ θεοῦ τοῦ ἀοράτου) als Unsichtbarer sichtbar. Die Argumentation ist recht analog. Die kosmische Struktur der Areopagrede wird hier auf die Person Christi übertragen, in der alles erschaffen wurde (ὅτι ἐν αὐτῷ ἐκτίσθη τὰ πάντα), das Sichtbare und das Unsichtbare (τὰ ὁρατὰ καὶ τὰ ἀόρατα). Die Darstellung ist hier komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Die Adressaten des Briefes waren die Ansicht von Bildern gewöhnt, vor allem aus dem bekannten Götter- und Kaiserkult. Auch die Götter stellten als Bild etwas dar, was eigentlich unsichtbar ist. Dennoch taten sie dies in anderer Form und mit einer anderen Begründung.

Die Auslegung von Kol 1,15 hat eine lange Geschichte, die sich um einen ausgedehnten Schulstreit bildet, welcher die Frage behandelt, ob Christus das Bild Gottes als präexistenter Logos ist, oder in seiner weltlich-menschlichen Erscheinungsform.19Vgl. zu diesem Schulstreit vor allem Kehl, Nikolaus: Der Christushymnus Kol 1,15–20, Stuttgart 1966, 14–25. Die Frage ist jedoch nicht allzu schwer zu beantworten: Christus macht als Mensch den unsichtbaren Gott sichtbar. Seine göttliche Natur ist dabei ebenso unsichtbar, wie die göttliche Natur des Vaters, um diese sichtbar zu machen, braucht es jedoch die menschlich-weltliche Form. Christus macht also in seiner menschlichen Natur die unsichtbare Natur des Vaters und damit auch seines eigenen Wesens sichtbar.20Vgl. nochmals ebd., 17. Die Frage bildet sich nochmals in einer größeren Spannung ab, wenn der Vers 17 einbezogen wird. Denn in seiner körperlichen Form kann Christus eben nicht vor allem (πρὸ πάντων) gewesen sein, wenn das vor temporal verstanden wird.

Bezieht man die Intention des Briefes ein, sich gegen die kollosäische Häresie zu wenden, die Christus nach dem Fleische als minderwertig betrachtete21Vgl. Sánchez Bosch, Jordi: Der Hymnus Kol 1,1520 in seinem früheren und späteren Kontext, in: Müller, Peter (Hg.): Kolosser-Studien (Biblisch-Theologische Studien 103). Neukirchen-Vluyn 2009, 23–33, hier 30., so zielt die Argumentation in der Einbindung des Hymnus darauf ab, Christus als leibhaftiges Bild der uneinholbaren göttlichen Wirklichkeit anzusetzen, denn in ihn wohnt „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9) (πᾶν τὸ πλήρωμα τῆς θεότητος σωματικῶς). Das heißt Christus ist als Mensch, in seiner konkreten Gestalt Ausdruck, sinnliches Bild des unsichtbaren Gottes. In ihm zeigt sich die Unsichtbarkeit dessen, der alles ist und alles erschaffen hat. Sie zeigt sich aber als Geschöpf. In dieser Weise wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen auf eine andere Ebene gehoben. Die Geheimnishaftigkeit, die der anikonischen Darstellung Gottes zugrunde liegt, ist somit in Christus als Menschen präsent. Die Funktion, die der Altar und auch die Cheruben erfüllten, wird nun durch einen konkreten Menschen erfüllt. Ein Mensch wird der Raum, in dem sich das absolut Undarstellbare darstellt. Versteht man Christus hier als Urbild eines jeden Menschen22Vgl. vor allem gaudium et spes 22: „Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“, so wird die Struktur, die sich in Christus darstellt, auf jeden Menschen übertragen. Der Mensch wird der Geheimnishaftigkeit Gottes teilhaftig.

Obwohl der Kolosserbrief wahrscheinlich nicht von Paulus stammt, ergibt sich für den Gesamtkorpus des Neuen Testamentes im Zusammenhang mit dem aus dem Alten Testament übernommenen Bilderverbot eine enorme Spannung. So gilt die Anbetung von Statuen immer noch als verboten (Areopagrede), dennoch hat sich der unbekannte, unsichtbare Gott selbst eine Gestalt gegeben. Christus ist die sichtbare Gestalt des unsichtbaren Gottes. Das heißt Gott selbst gibt seiner Unsichtbarkeit einen sichtbaren Ausdruck. Das heißt jedoch schon, dass es bei der Gestalt Christi nicht allein um die Aufnahme des sensual sichtbaren Gehaltes gehen kann, sondern darum, gerade in diesem die Unsichtbarkeit Gottes zu sehen. Im Johannesevangelium drückt sich dieser Zusammenhang durch die Worte Jesu selbst aus: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ (Joh 14,9) Doch um welche Art des Sehens geht es hier? Würde die Person Jesu auf die historische Erscheinung reduziert, hieße das, dass man beim Sehen Jesu nicht sieht, was sich zu sehen gibt. Nur wer in Christus den Vater sieht, sieht richtig.

Die dargestellte Spannung führte zum innerchristlichen Bilderstreit, der sich historisch vielfach wiederholte. Das Zweite Konzil von Nicäa folgte jedoch der Argumentation, die sich im Kolosserbrief ausfaltet23Vgl. für eine umfassende Aufarbeitung an dieser Stelle vor allem Thümmel, Hans Georg: Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert. Das 7. Ökumenische Konzil in Nikaia 787, Paderborn u. a. 2005.: Weil Gott sich selbst in Christus einen sichtbaren Ausdruck gegeben hat, ist es möglich, Bildnisse von ihm und auch von seiner Mutter und den Heiligen zu verehren (προσκύνησις), jedoch nicht, sie anzubeten (λατρεία). Der Unterschied ist bereits an dieser Stelle ein ästhetischer: Wie bei Christus macht die Ikone etwas Unsichtbares sichtbar. Sie, die Ikone, in ihrer materialen Gegebenheit anzubeten hieße, genau diesen Modus misszuverstehen.24Vgl. zu diesem Verhältnis vor allem Marion, Jean-Luc: Die Öffnung des Sichtbaren (ikon. Bild + Theologie). Paderborn 2005, 79.

III. Ästhetische Grundspannung

Johann Georg Hamann entwarf im Zuge seiner Metakritik zur Aufklärung einen für die aktuelle wissenschaftliche Debatte der Ästhetik recht eigentümlichen Gedanken: „Die älteste Ästhetik liegt darin, Gott über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und ihm allein zu vertrauen.“25Vgl. zu diesem Zitat Bayer, Oswald: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München/Zürich 1988, 15. Hamann wendet sich mit diesem Zitat gegen eine in der Aufklärung entstandene Wissenschaftsrichtung der Ästhetik, welche diese auf die reine Verarbeitung von Sinnesdaten reduziert, die dann lediglich geordnet und subjektiv bewertet werden.26Diese Ansicht geht vor allem auf das Werk Aestetica von Alexander Gottlieb Baumgarten zurück, welcher die Wissenschaft der Ästhetik als die „Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis“ definierte. (Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica § 1, in: https://www.gleichsatz.de/b-u-t/can/stx/baumgarten_.html) Hamann wendet sich mit dem Titel Aestetica in Nuce, aus dem das obige Zitat entnommen ist, genau gegen diese Anschauung. Neben Baumgarten wurde diese Ansicht vor allem mit weitreichenden Einfluss von Kant geprägt und durchdringt den wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs der Ästhetik bis heute. So geht es Kant im Anschluss an Baumgarten in der ästhetischen Anschauung um ein strikt subjektives Geschmacksurteil.27Dies macht gleich der erste Satz der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft deutlich: „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei, oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Object zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft auf das Subject und das Gefühl der Lust und Unlust desselben.“ Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft/Kritik der Urteilskraft. Akademische Textausgabe, Berlin 1968, 203. Was sich zeigt, ist dass das, worauf diese Anschauung zielt, lediglich der sensuale Gehalt ist. Aber das Wort aisthesis (αἴσθησις) zielt schon von seinem etymologischen Ursprung her nicht einfach auf den Eingang sensualer Daten und deren Verarbeitung, sondern auf das Verstehen dieser Daten.28Vgl. Tischler, Johann: Hethitisches etymologisches Glossar, Innsbruck 1980, 503. Der Akt der aisthesis geschieht somit im Sinne des Sehens nicht einfach dadurch, etwas zu sehen, sondern das, was sich als das zu Sehende gibt, auch als das zu verstehen, was es ist. Als ein gutes Beispiel kann hier ein Deutsch sprechender Mensch auf einem chinesischen Bahnhof angeführt werden. Wenn diesem nun auf Chinesisch gesagt wird, dass heute keine Züge mehr fahren und er somit vergeblich wartet, dann ist er nicht in der Lage, den Inhalt der Aussage zu verstehen, was nicht bedeutet, dass er diese nicht hört. Ihm fehlt lediglich die richtige aisthesis, die für das Verständnis jedoch zwingend notwendig ist.29Auch dieses Beispiel verdanke ich der Vorlesung von Hermann-Josef Röllike Denken der Religion auf dem Wege einer Kritik des ästhetischen Umgangs mit der Kunst, deren Manuskript nicht veröffentlicht wurde. Übertragen auf die Person Christi fehlt jenem die richtige Ästhetik, der in der weltlichen Gestalt Jesu nicht die Unsichtbarkeit des alles umfassenden Gottes erkennt. Denn sieht man die beiden angeführten Quellen der Areopagrede und Kol 1,15 zusammen, dann ist die Person Jesu als Mensch das Bild der allumfassenden Wirklichkeit, in der wir sind und in der wir leben. Die rechte Ästhetik würde in einer Ein-Sicht in diesen Zusammenhang bestehen.

Das im Deutschen gebräuchliche Wort der „Wahr-Nehmung“, welches durch Hans Urs von Balthasar in den Diskurs eingeführt wurde, trifft diesen Zusammenhang wohl am besten.30Von Balthasar, Hans Urs: Herrlichkeit. Schau der Gestalt, Einsiedeln 1988, 22. In gewissem Sinne ist es das Gesamtanliegen der theologischen Ästhetik von Balthasars, den Zusammenhang einer Wahr-Nehmung der Offenbarungsgestalt Jesu-Christi im Hamannschen Sinne aufzuweisen. Seine Übersetzung der Hamannschen Definition liest sich diesbezüglich folgendermaßen: „[I]mmer totalere Hingabe an das immer stärkere Übergewicht des freien souveränen Gottes, ja immer radikalere Preisgabe aller eigenen, natürlichen Evidenzen und Glaubensgründe in die eine, einzige Evidenz Gottes hinein.“ Ebd., 160. Es geht bei der Ästhetik im Sinne Hamanns und im Sinne von Balthasars nicht darum, sensuale Gehalte zu verarbeiten und diese einer subjektiven Bewertung zu unterziehen, sondern diese Gehalte als etwas Gegebenes wahr zu nehmen, das heißt die Wahrheit, die sich im Gegebenen gibt, als das anzuerkennen, was sich im Erscheinenden als das nicht Erscheinende zeigt und gibt. Diese ästhetische Logik führt im Sinne von Balthasars, aber auch im Sinne Jean-Luc Marions zu einer kenotischen Dynamik der Wahr-Nehmung.31Vgl. zu dieser Marion: Öffnung 80–81. Es kann bei einem Sehen, das tatsächlich versteht, nicht darum gehen, dass sich das, was sich zeigt, als positivistischer Gehalt behauptet und dass das wahrnehmende Subjekt es dem Objekt in dem Sinne gleich tut, als dass es sich ebenfalls als Wahrnehmendes Gegenüber verabsolutiert, sondern darum, dass sich das Subjekt durch die Wahr-Nehmung des sich ihm Gebenden in eine Dynamik eingefasst findet, die es in eine Uneinholbarkeit hinein überführt, die eins ist, mit seinem eigenen Wesen. In die Terminologie der Kenotik überführt, müsste sich somit ein Bild finden lassen, „das seine eigene Sichtbarkeit los wird, um darin einen anderen Blick durchbrechen zu lassen.“32Ebd., 80. Christus wird für Marion, aber auch für von Balthasar gerade dadurch zum Bild des unsichtbaren Gottes, dass er ganz auf das eigene Ansichtigwerden verzichtet, dieses gänzlich hingibt, um nur das durchscheinen zu lassen, was das Wesen des unsichtbaren Gottes sichtbar werden lässt. Dieses Wesen könnte man aber ebenfalls in kenotischer Terminologie als Hingabe bezeichnen. Der ästhetische Nexus wäre in der Wahrnehmung der Gestalt Christi dann folgendermaßen auszuführen: Sieht ein Mensch in der Person Christi wirklich das, was in ihr zu sehen ist (den unsichtbaren Gott), wird er eingeführt in die Wahr-Nehmung der alles umfassenden und deshalb unfassbaren Größe, die seine eigene Wahrnehmungsfähigkeit übersteigt. In diesem Prozess vollzieht er selbst die Hingabe, die ihm in der Person Christi als Struktur der Wirklichkeit des unsichtbaren Gottes begegnet. In diesem Sinne vollzieht sich eine performative Einheit von Wahr-Nehmung, Hingabe und kenotischer Wirklichkeit. Eben diese Dynamik versteht Hamann unter der Praxis „Gott über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und ihm allein zu vertrauen“.

Die Spannung, die sich abzeichnet, zieht sich somit durch die gesamte Darstellung bis hierher. Bereits das frühe alttestamentliche Bilderverbot versuchte, die eigentliche Transzendenz des Bundesgottes JHWH dadurch deutlich zu machen, dass es alle bildlichen und figürlichen Darstellungen untersagte, weil diese immer das Missverständnis der Einschränkung des Uneingeschränkten mit sich brachten. Dennoch gab es ein Bedürfnis, die Anwesenheit des Undarstellbaren darzustellen. Die anikonischen Rahmen der Bundeslade und des Tempels leisteten gerade dies: Der leere Raum, in dem tatsächlich sensual nichts zu sehen war, eröffnete den Raum für die Wahr-Nehmung der Gegenwärtigkeit des unsichtbaren Gottes. Jede Form materieller Vergegenwärtigung wäre nicht in der Lage gewesen, dies zu leisten. Hier gilt aber wiederum der ästhetische Nexus: Man sieht nur, was zu sehen ist, wenn man die rechte Ästhetik, das rechte Verständnis mitbringt. Dann ist nämlich der Raum zwischen den Flügeln der Cheruben ganz und gar nicht leer, sondern von der Präsenz Gottes erfüllt.

Die Spannung überträgt sich in Teile des Neuen Testamentes und weitet sich dahingehend, dass der leere Raum des Altares zwar immer noch die Gegenwärtigkeit des unsichtbaren und unbekannten Gottes leistet (Areopagrede), dass sich aber dieser unsichtbare Gott selber ansichtig macht in der Person Jesu Christi. Diese wird aber nur gesehen, wenn man sie nicht auf den Eindruck des sensualen Inputs reduziert, sondern in ihr gerade den Vater sieht und sie somit als das wahr-nimmt, was sie ist: Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15).33Hier soll nicht der Eindruck entstehen, dass das Neue Testament eine einheitliche Argumentationslinie besitzt. Der Kolosserbrief ist nicht von Paulus und auch die Apostelgeschichte durchlief einen komplexen kompositorischen Prozess. Dennoch lässt sich die Grundspannung, um die es hier zentral geht, in allen Schichten wahrnehmen. Weil die Darstellung um Verständnis bemüht ist, ist sie an dieser Stelle jedoch zu Vereinfachungen gezwungen, die den einzelnen Textelementen sicherlich nicht gänzlich gerecht wird. Diese Wahr-Nehmung des Vaters versetzt aber den Wahr-Nehmenden in die Furcht, die Hamann beschreibt, wenn er den Prozess der Ästhetik als ganzen darin sieht, Gott zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen. Diese Grundbewegungen beschreiben den Vorgang, in dem der wahrnehmende Mensch in den absoluten Hintergrund des Unsichtbaren vordringt, aus dem heraus alles Sichtbare erst sichtbar wird. Weil dieser Hintergrund uneinholbar ist, gerät der Mensch in Furcht, weil er uneinholbar ist, kann man sich ihm hingeben (ihm vertrauen und lieben). Dieser Hintergrund liegt aber nicht in einer Form von Hinterwelt, sondern ist konkret anwesend und wird auch konkret gesehen, wenn man im Sehen das rechte Verständnis, die rechte Ästhetik besitzt.

Die beiden Aspekte von Vertrauen und Liebe bilden hierbei eine weitere Ebene der Wahrnehmung, die ästhetisch nicht auf die Person Jesu beschränkt bleiben muss. Eher ist es so, dass Christus durch seine Durchsichtigkeit zum Vater einen Schlüssel für die Gesamtheit dessen darstellt, was Wahr-Nehmung genannt werden kann, weil die Wirklichkeit des Vaters, des unsichtbaren Gottes ja die Wirklichkeit von dem ist, worin wir uns bewegen und worin wir sind.34Im Prinzip ist es die Agenda des Buches Die Öffnung des Sichtbaren Jean-Luc Marions, diesen Gedanken auszuführen. Vgl. zum Aspekt der Liebe im Zusammenhang mit dem der Wahr-Nehmung vor allem ebd., 74–81. Die Uneinholbarkeit, die in der Tiefe der Betrachtung der Person Jesu sich eröffnet ist also ungetrennt von der Uneinholbarkeit, die uns in der gesamten Schöpfung begegnet. Um dieser Tiefendimension jedoch inne zu werden, braucht es die beiden ästhetischen Bewegungen Hamanns: Vertrauen und Liebe. Auch Goethe wusste bereits, dass das, was in der Wahrnehmung auch verstanden werden soll, geliebt werden muss.35So Goethe in dem Satz: „Man lernt nichts kennen als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß die Liebe, ja Leidenschaft sein.“ Vgl. zur Kommentierung dieses Satzes bezüglich des angeführten ästhetischen Gedankens: Disse, Jörg: Liebe und Erkenntnis. Zur Geistesmetaphysik Hans Urs von Balthasars, in: MThZ 50/3 (1999), 215–227. Geht es in der Ästhetik also nicht allein um die Analyse der jeweiligen sensualen Prozesse und schon gar nicht um deren subjektive Bewertung, sondern darum, dass in diesen Gegebene als das wahrzunehmen, was es ist, phänomenologisch gesprochen also zu den Sachen selbst zu kommen, dann benötigt dieser Prozess einen Abzug aller Projektionen, die seitens des Subjektes auf das wahrzunehmende Objekt oktroyiert werden. Dieser Vorgang eröffnet jedoch die gesamte Weite des Begegnenden in seiner Uneinholbarkeit. Personal gewendet erscheint mir in meinem Gegenüber ein nicht einzuholendes Geheimnis, das sich mir umso mehr offenbart, je größer der Raum wird, den ich ihm in meiner Liebe gebe. Die Unverfügbarkeit des Anderen gründet primär in der mir durch ihn begegnenden Freiheit, die sich meinem Zugriff absolut entzieht, die jedoch in dem Raum meiner Liebe zunächst in die Weite findet, die sie zu dem Geheimnis macht, das mir begegnet.

Die Person Jesu weitet nun dieses Geheimnis begegnender Freiheit auf den gesamten Schöpfungshintergrund. In ihr begegnet mir nicht einfach eine Person in ihrem Freiheitsvollzug, sondern der Vater selbst und somit der Freiheitsvollzug, der die gesamte Schöpfung, in der wir sind, ins Sein gerufen hat und in diesem Sein erhält. In diesem Sinne ist Christus als Mensch Bild des unsichtbaren Gottes. Offenbart sich in ihm aber die Herrlichkeit als die Freiheit, die dem Schöpfungszusammenhang zugrunde liegt, so dehnt sich die begegnende Geheimnishaftigkeit auch auf die Schöpfung als ganze aus. Alles Sichtbare weist auf das Unsichtbare, durch das es sichtbar wird. Es geht nun aber nicht darum, dass dieses Unsichtbare nicht sichtbar werden könnte, sondern darum, dass es ja gerade durch das Sichtbare sichtbar wird als Unsichtbares. Wird das, was sich sehen lässt, im Sehen auf die rechte Weise verstanden, dann sieht man in ihm den unsichtbaren freiheitlichen Hintergrund. Dieser Hermeneutik folgend könnte sogar gesagt werden, dass das Sichtbare gerade sichtbar ist, um das Unsichtbare sichtbar zu machen.36Marion konstruiert diesen Grundgedanken am Beispiel der Malerei. (Vgl. Marion: Öffnung 53.) Der Maler versucht jedoch eher, durch das Bild dem Betrachter die Grunddimension des Unsichtbaren im Sichtbaren generell aufzuschließen. Hierbei wäre die gesamte Schöpfung als der Rahmen verstanden, der von den zwei Cheruben auf der Bundeslade gebildet wurde. Wie diese den Raum umfassten, in dem die Unsichtbarkeit Gottes sichtbar wurde, so rahmt, der dargestellten ästhetischen Logik folgend, die gesamte Schöpfung die Unsichtbarkeit des freiheitlichen Schöpfungshintergrundes ein. Diese Ästhetik, dieses verstehende Sehen, bedarf jedoch zunächst einem weltlich Sichtbaren, das tatsächlich als Sichtbares gänzlich sich selbst nichtender Verweis wird, für das Unsichtbare. In der Person Jesu zeigt sich diesbezüglich nicht ein einziges partikulares Ereignis, sondern die Wirklichkeit der gesamten Schöpfung, deren Mittelpunkt die Gestalt Christi bildet. Ihr Verweischarakter ist die Wirklichkeit der Gesamtschöpfung.

IV. Grundmuster anikonischer Darstellung in buddhistischen Kontexten

Im Folgenden soll nicht der Versuch unternommen werden, die aus dem christlichen Kontext herausgearbeiteten Argumentationsmotive direkt auf buddhistische Kontexte zu übertragen. Dieses Vorhaben würde den jeweiligen Traditionen in ihrer Einmaligkeit und Innovationskraft kaum gerecht. Dennoch soll aufgezeigt werden, dass es in zahlreichen buddhistischen Kontexten anikonische Darstellungen der Person des Buddha gab. Diese Darstellungen sollen zunächst unter Zuhilfenahme kulturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in ihren Ansätzen verstanden werden. Dieses Verstehen bezieht auch die Begründungsstrukturen für die anikonische Darstellungsweise mit ein, soweit diese zugänglich sind. Es soll also verstanden werden, warum der Buddha anikonisch dargestellt wurde. Ist dies geleistet, kann nach den jeweils eigenen Spannungen gefragt werden, die sich in den buddhistischen Kontexten ergeben, um daraufhin auch diese Spannungen einer ästhetischen Analyse zu unterziehen. Eben diese kann dann in einem finalen Schritt ein neues Licht auf die herausgearbeiteten ästhetischen Spannungen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im christlichen Kontext werfen.

Dass die buddhistische Kultur keinen monolitischen Block bildet, versteht sich von selbst. Deshalb ist es zunächst ratsam, an den Anfang buddhistischer Überlieferung zurückzugehen, der nicht, wie immer noch die meisten Einführungen in den Buddhismus vermuten lassen, mit dem Leben des Buddha als historischer Person beginnt.37Eine relativ einflussreiche Einführung macht sich den Zusammenhang der historischen Figur des Buddha sogar zum Titel. Vgl. Thích-Nhất-Hạnh: Wie Siddhartha zum Buddha wurde. Eine Einführung in den Buddhismus, Bielefeld 102016. Hier zeigt sich deutlich, dass sich die Anfangszusammenhänge kaum mehr verstehen lassen, wenn man den Buddha als einfachen Menschen betrachtet. Die Ursachen und Konstruktionsprozesse, die zur Annahme eines historischen Buddha geführt haben, waren ausschließlich zunächst westlicher Provenienz. Erst später wurde diese Konstruktion von Buddhisten selbst adaptiert. Vgl. zu diesem Zusammenhang und einer umfassenden Kritik des westlichen Buddha-Bildes Tomomichi, Nitta: On the Deification of the Historical Buddha in the Studies of Buddha‘s Life Story, in: Hôrin 15 (2008), 43–53.

Die frühesten Funde buddhistischer Kultur gehen in die Zeit König Aśokas (304232), dem König der Maurya Dynastie, zurück. Für unseren Zusammenhang relevant sind weniger die Edikte, die Aśoka in Form von Säulen- und Felsen-Edikten aufstellen ließ und die die älteste Erwähnung des Namens des Buddha enthalten, sondern die Kultstätten, die er als rituelle Verehrungsplätze des Buddha errichten ließ, die Stupas.38Die wohl umfassendste und gesichertste Analyse zum Stupa-Kult wurde von Gregory Schopen erarbeitet. Vgl. vor allem seinen Beitrag Schopen, Gregory: Bones, Stones and Buddhist Monks. Collected Papers on the Archaeology, Epigraphy and Texts of Monastic Buddhism in India, Honolulu 1997, 86–204. Dies sind stilisierte Grabhügel, an denen der Ritus der Verehrung des Buddha im Status seines parinirvāṇa, also seines letzten Eingangs ins Nirvana, vollzogen wurde. Diese Grabhügel enthalten einzelne Urnen, deren Aufschriften variieren. Oftmals sind sie als Reliquien verstanden worden, was auch den Inschriften entspricht. Die Reliquienverehrung erhielt jedoch im Buddhismus eine gänzlich andere Funktion als in anderen Kontexten. Das, was man Reliquie (skt. dhātu) nannte, wurde nicht als ein Teil des Körpers einer verstorbenen, historischen Person angesehen, sondern als der lebendige Buddha selbst. Durch die Reliquien wurde der Stupa als Ganzes sogar als Person betrachtet.39Vgl. ebd., 121–133. In den dhātus und somit im Stupa war also der Buddha anwesend in seiner Abwesenheit. Er zeigte sich und wurde verehrt, aber zunächst nicht in physischer Darstellung, sondern als der, der in seiner Abwesenheit, als der, der eingegangen ist ins parinirvāṇa, anwesend ist. Für das Thema dieses Beitrags ist dieser Zusammenhang von großer Relevanz, weil er die anikonischen Darstellungen, die sich in der vedikā, dem Umlauf um den Stupa40Zum allgemeinen Aufbau und der Funktion des Stupa vgl. allgemein Kottkamp, Heino: Der Stupa als Repräsentation des buddhistischen Heilsweges. Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung architektonischer Symbolik, Wiesbaden 1992. Für die Funktion der Vedika vgl. ebd., 53–55., auf zahlreichen Reliefs findet, verständlich macht. Speziell in der frühen Phase der Stupas von Bharhut, Sāñcī, aber auch Amrāvatī, wurde der Buddha ausschließlich anikonisch dargestellt. Führt man sich die gesamte Funktion der Stupaverehrung vor Augen, ergibt sich ein Gesamtbild: Der Stupa selbst ist der Ort, an dem der Buddha im Status des gänzlichen Erwacht-Seins verehrt wird. Dieses gänzliche Erwacht-Sein ist aber nichts, das sich weltlich abbilden ließe. Der Buddha wird aber nur verehrt, weil er der gänzlich Erwachte, eben der Buddha ist. Die Reliquien in der inneren Kammer des Stupas wurden als der lebendige Buddha selbst angesehen. Die zahlreichen Inschriften machen dies unmissverständlich deutlich.41Vgl. an dieser Stelle nochmals Schopen: Bones 121–133. Um diesen Zusammenhang besser zu verstehen seien einige Beispiele angeführt:

Abbildung I: Bharhut Ajatasattu-Stehle, ca. 125 v. Chr. (Bharhut), Stein, Indian Museum, Kolkata (Indien). Detail: Die Herabkunft des Buddha aus dem Tavatimsa-Himmel.

Das Relief der Herabkunft des Buddha aus dem Tavatimsa-Himmel (dem Himmel der 33 Götter) macht den Zusammenhang in all seiner Spannung deutlich. Das Bild (Abb. I) versucht die Szene darzustellen, in der der Buddha aus dem Tavatimsa-Himmel auf die Erde herabsteigt. Zuvor verbrachte er eine Zeit im Tavatimsa-Himmel, um seiner Mutter, die dort als Gottheit wiedergeboren wurde, seine Lehre zukommen zu lassen.42Vgl. zur Textbasis des Reliefs die Stelle des Palikanons: http://www.palikanon.com/namen/t/taavatimsa.htm. Die Darstellung macht unmittelbar deutlich, dass der, der gerade aus dem Himmel auf die Erde herabsteigt, gänzlich verschieden ist von denen, die ihn sehnsüchtig erwarten. Der Buddha wird auf der Himmelsleiter dargestellt, aber nicht durch seinen physischen Körper, sondern durch zwei Füße, auf denen ein Dharma-Rad abgebildet ist. Diese Symbolik macht unmittelbar deutlich, dass es sich bei dem, der dort herabkommt, um den Buddha handelt.43Vgl. hierzu Stratton, Carol: Buddhist Sculpture of Northern Thailand, Chicago 2004, 301. Der, um den es in dieser Szene primär geht, der auch in der Mitte des Bildes präsent ist, ist also nicht zu sehen. Er wird jedoch als das sichtbar, was nicht zu sehen ist. Dies wird an dieser Stelle nicht durch eine Form von Rahmung gewährleistet, wie es bei der Bundeslade oder im Jerusalemer Tempel der Fall war, sondern durch den Fußabdruck, den der Buddha hinterlässt. Das Relief steht jedoch nicht alleine. Die anikonische Darstellung des Buddha bildet die dominierende, ja in der Frühzeit des Buddhismus einzige Darstellungsweise. Abb. I steht im Stupa von Bharhut auch in einem gewissen Kontext. Es bildet die Mitte zweier weiterer anikonischer Darstellungen (Abb. II) auf der sogenannten Ajātashatru-Stehle.

Abbildung II: Bharhut Ajatasattu-Stehle, ca. 125 v. Chr. (Bharhut), Stein, Bharhut, Indian Museum, Kolkata (Indien).

 

Die obere Darstellung zeigt eine Form von Lehrszene, in der der Buddha die ihm folgenden Mönche unterrichtet.44Dies deutet vor allem die Sitzposition der den Lehrstuhl umgebenden Personen an. Er tut dies aber auf dem Stuhl des Lehrers sitzend. Die Szene ist somit klar, doch der Stuhl, auf dem der Buddha sitzt, ist scheinbar leer. Das einzige, was wiederum die Anwesenheit des Buddha unmissverständlich anzeigt, ist der Bodhi-Baum, der Baum des Erwachens. Er übernimmt die Funktion, welche auf dem Bild der Herabkunft die Füße übernommen haben. Wohl gemerkt ist auch auf dem Bild der Herabkunft der Lehrersitz unter dem Bodhi-Baum zu sehen. Die angewandte Symbolik zeigt somit nicht nur, dass der Buddha anwesend ist, sondern auch, wo er gerade ist und was er gerade tut. Die untere Darstellung ergänzt das Gesamtbild zu einem Narrativ. Dort werden eindeutig dieselben Personen gezeigt wie oben, nur diesmal in einer den Buddha verehrenden Position. Hier wird auch die Richtung der Verehrung deutlich, es ist die Richtung des ansichtig leeren Platzes des Stuhles des Lehrers. Die Präsenz des Buddha wird aber gerade durch die Bewegung der Verehrung angezeigt. Das Gesamtnarrativ der Szene wird nun auch deutlich. Zunächst ergeht die Lehre an die den Buddha folgenden Mönche (oberes Bild). Daraufhin empfängt dieselbe Lehre die verstorbene Mutter des Buddha, welche im Tavatimsa-Himmel wiedergeboren wurde (mittleres Bild). Daraufhin wird Buddha (unteres Bild) als Dank für die empfangende Lehre verehrt.45Der Zusammenhang könnte auch so gelesen werden, dass der Buddha im oberen Bild die Lehrerzählung seines Aufenthaltes im Tavatimsa-Himmel der Gemeinde übermittelt. Das mittlere Bild wäre in diesem Fall der Lehrinhalt, der im oberen verkündet würde. Dies kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Die Bilder der Stehle zeigen allerdings einen eindeutigen Zusammenhang, der sich für mich auf die oben dargestellte Weise am kohärentesten lesen lässt. Der narrative Charakter ist an dieser Stelle unstrittig. Vgl. zu diesem Dehejia, Vidya: On Modes of Visual Narration in Early Buddhist Art, in: The Art Bulletin 72/3 (1990), 374–392, hier 381.

Es gäbe noch unzählige weitere Beispiele für die anikonische Darstellung des Buddha.46Eine der bisher besten kommentierten Zusammenstellungen liefert Tanaka, Kanoko: Absence of the Buddha Image in Early Buddhist Art. Towards its Significance in Comparative Religion, New Delhi 1998. Hier findet sich auch eine umfassende Diskussion über die Weisen der Symbolischen Darstellung des Buddha auf dem Tron. Ebd., 24. Ebenfalls führt die Studie umfassendes Bildmaterial auf. Ebd., 166–230. Was die Stehle allerdings deutlich macht, ist dass es sich beim leeren Tron nicht schlicht um die Verehrung des historischen Buddha in seiner Abwesenheit nach dem Tod handeln kann, und dass solche Szenen sich so einfach abgespielt, also Mönche und Laien einen leeren Stuhl verehrt haben, auf den der durch seinen Tod abwesende Buddha imaginiert wurde.47Vgl. zu dieser These Tanaka: Absence 92. Die These, dass in den Reliefs eine reine Abbildung liturgischer Vorgänge vorzufinden sei, geht auf Susan L. Huntington zurück. Jenseits der Tatsache, dass dies an einem liturgischen Ort wie einem Stupa kaum zu erklären wäre – in einer Kirche finden sich auch keine Bilder, wie Christen Eucharistie feiern – muss Huntington die argumentative Schwäche ihrer Darstellung selbst eingestehen: „While I cannot yet explain, why the Buddha is absent from the secene, I believe his absence is simply that – an absence – rather than a presence indicated by the seat or a tree.“ Huntington, Susan L.: Aniconism and the Multivalence of Emblems. Another Look, in: Ars Orientalis, 22/1 (1992), 111–156, hier 116. Wie genau wäre denn dann die mittlere Szene zu deuten? Wurden auch leere Leitern verehrt? Die gesamte symbolische Darstellung lässt auf etwas anderes schließen. Der Buddha selbst wurde von Anbeginn gar nicht als das wahrgenommen, was wir als schlichte historische Person verstehen.48Neben Tomomichi (Vgl. Anm. 37) deckte auch Donald S. Lopez den Prozess der westlichen Konstruktion eines historischen Buddhas auf und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Er zeigt deutlich, dass das westliche Bild des Buddha diametral zu dem steht, was ursprünglich gemeint war. Vgl. Lopez, Daniel S.: The Scientific Buddha. His Short and Happy Life, London 2012. Er hat ja, so sprechen zunächst die Bilder, mit den Umstehenden, die ihn verehren, phänomenologisch, also als das, als was er erscheint, nichts zu tun. Sein Wesen scheint auf einer ganz anderen Ebene zu liegen.

Die Gründe für die anikonische Darstellung liegen somit eher in der Tatsache, dass das, was das Wesen des Buddha ausmacht, als etwas der Welt gegenüber gänzlich Transzendentes wahrgenommen wurde.49Eigentümlicher Weise sieht dies auch Tanaka ein, was seine Darstellung etwas inkonsistent macht: „The empty throne transcends all these transitory lives [der umherstehenden und den Buddha verehrenden Wesen] and places itself there in the eternal stability.“ Tanaka: Absence 103. Beziehen wir an dieser Stelle eine ästhetische Position ein, so wird der in den Reliefs präsentierte Sachverhalt klarer. Die Bezeichnung Buddha geht etymologisch auf die Sanskritwurzel √budh zurück, die semantisch ein schlichtes Öffnen der Augen beschreibt.50Die Übersetzung „Der Erwachte“ kommt somit dem Begriff eines Buddha am nächsten, da auch beim morgendlichen Erwachen das Öffnen der Augen vollzieht. Für eine umfassende Analyse des Namens des Buddha vgl. Müller, Charles: Art. 佛. Digital Dictionary of Buddhism, in: http://www.buddhism-dict.net/cgi-bin/xpr-ddb.pl?q=佛. Beim Öffnen der Augen geschieht jedoch, rein mechanisch betrachtet, ein Übergang von dem Status des Nicht-Sehens in den Status des Sehens. Der Name des Buddha könnte somit übersetzt werden als „Der, der sieht“. Betrachten wir vor diesem Hintergrund die anikonischen Darstellungen der Reliefs, lassen sich diese auf eine neue Art lesen. Der Buddha ist der einzige, der sieht. Schon dies ist recht eigentümlich, meinen wir doch, nicht anders als die Menschen, die auf den Reliefs dargestellt werden, dass wir Dinge sehen. Man wacht morgens auf und nimmt die Repräsentation der Welt visuell wahr. Das nennen wir Sehen. Doch der einzige, der sieht, der Buddha, ist auf den Reliefs der einzige, der auf dieser Ebene nicht zu sehen ist. Das, worin uns die Reliefs didaktisch unterrichten wollen, ist dass das, was wir Sehen nennen, die Wahrnehmung auch der umstehenden Figuren des Buddha, ein Nicht-Sehen ist. Erst wenn wir das sehen, was auf dem Relief das einzige ist, das als das Nicht-zu-Sehende zu sehen ist, sehen wir wirklich.

Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang, wenn wir Reliefs heranziehen, die den Betrachter explizit mit in die Situation einbeziehen.

 

Abbildung III: Trommelplatte (mit Geburt des Buddha, anikonisch), 1. Jhd. n. Chr. (Amarāvati) Kalkstein, 157,50×96,25×14,00cm, British Museum, London.

Die in Abb. III dargestellte Geburt des Buddha (rechts unten) zeigt, wie Buddhas Mutter Maya ihren Sohn aus ihrer Seite heraus zur Welt bringt.51Vgl. zu diesem Relief auch Wenzel, Claudia: The Image of the Buddha: Buddha Icons and Aniconic Traditions in India and China, in: Transcultural Studies 1 (2011), 263–305, hier 272–273. Dieser ist bereits zur Welt gebracht und befindet sich auf dem dargestellten Hocker. In den Kreis der umstehenden Personen wird der Betrachter unmittelbar mit eingebunden, was die Perspektive deutlich macht. Dies zeigt, dass der Sinn dieser Darstellungen tatsächlich in einer Form von Vergegenwärtigung liegt. Allerdings nicht der Geburt einer rein historischen Person, sondern der Geburt dessen, der sieht und mit dem das Sehen in die Welt kommt. In gewisser Weise scheint der Betrachter des Reliefs zu lernen, wie all das, was er scheinbar jeden Tag sieht, zu betrachten ist, nämlich als Nicht-Sehen. Das, worum es wirklich geht, die Mitte auch dieser dargestellten Szene, ist nicht auf die Weise zu sehen, wie man das Sehen bisher versteht.

Bezüglich einer Ästhetik, also der Frage, wie das Sehen des Menschen zu verstehen ist, müsste nun weiter verstanden werden, wie sich die Entwicklung von der anikonischen zur ikonischen Darstellung des Buddha, die im Westen alleinig bekannt zu sein scheint, vollzogen hat. Hier ist sich zumindest das kulturwissenschaftliche Feld weitreichend einig.52Vgl. zum Folgenden Wenzel, Claudia: Anikonik im chinesischen Mahayana-Buddhismus. Die Wahren Merkmale des Buddha, in: Schweidler, Walter (Hg.): Weltbild – Bildwelt, Weingarten 2007, 271–292, hier 278–280. Die Entwicklung vollzog sich nicht rein innerbuddhistisch. Die buddhistische Kultur war zu Anfang Teil eines allgemeinen Umfeldes, welches sich über Indien bis Pakistan in den heutigen Iran und Irak erstreckte. Zur selben Zeit wie der buddhistische Kulturzweig entwickelten sich auch hinduistische und jainistische Kulturen von einer anikonischen in eine ikonische Phase. Gründe hierfür liegen wohl primär in einer Stärkung der Laienbewegung, die sich eher auf die Verehrung anthropomorpher Darstellungen richtete, aber auch in der Bhakti-Bewegung.53Hierbei müsste es sich jedoch um Prä-Bhakti-Bewegungen gehandelt haben. Die historische Fassbarkeit der Bhakti Bewegung beginnt in etwa im 6. Jhd. n.Chr. Vgl. Schomer, Karine: Introduction, in: Dies. / McLeod, W. H. (Hg.): The Sants: Studies in a Devotional Tradition of India, Delhi 1987, 1–17. Diese brachte als konstitutives Moment vor allem die Hingabe zu einer personalen Gottheit mit sich. Um diese liturgisch hinreichend abzubilden, war es schlicht notwendig, personalisierte Darstellungen zu entwickeln, wie es dann auch im Hinduismus, Jainismus und Buddhismus zur gleichen Zeit geschah. Im Buddhismus lagen für diese Darstellungen allerdings bereits Schriftzeugnisse vor. So vor allem die an zahlreichen Stellen in den Sutren aufgeführten 32 physischen Merkmale des Buddha (skt. mahāpuruṣa lakṣaṇa).54Vgl. zu diesen ebenfalls Wenzel: Anikonik 278–279. Diese weisen den Buddha als einen überaus perfekten Menschen (skt. mahāpuruṣa) aus, der dementsprechend auch einen überaus perfekten Körper besitzt. So wird er meist mit breiten, oft muskulösen Schultern dargestellt, die in eine schmale Taille überleiten. Die ersten figurativen Darstellungen des Gesamtkorpus finden sich zwischen dem 1. und 2. Jhd. n. Chr. in etwa gleichzeitig in Mathurā und Gandhāra. Sie folgen in weiten Teilen den schriftlichen Überlieferungen der 32 Merkmale und stellen den Buddha auch als physisch allem überlegene Figur dar, die über eine überdurchschnittliche Größe und Schönheit verfügt.55Zu den Merkmalen und ihrer Unterteilung vgl. nochmals ebd., 278–279. Als ein wunderbares Beispiel für die Verarbeitung der Merkmale in figurativer Darstellung kann der stehende Buddha von Gandhāra herangezogen werden (Abb. IV).

Abbildung IV: Stehender Buddha von Gandhāra, 2. Jhd. n. Chr. (Gandhāra), Kalkstein, Tokyo National Mu-seum, Tokyo.

Er zeichnet sich durch eine überdurchschnittliche Schönheit aus, die ihn nach den überlieferten Merkmalen zeichnet. Spannend ist, dass diese Darstellung das Produkt einer Begegnung zwischen indischer Textüberlieferung und griechischer Handwerkskunst und Kultur ist, die sich im Gandhāra des 2. Jhd. immer mehr Raum verschafft hat.56Zur detaillierten Analyse dieses Vorgangs vgl. Hallade, Madeleine / Hinz, Hans: Indien. Gandhâra – Begegnung zwischen Orient und Okzident, Fribourg 21975, 33–57. Mit der Entwicklung in Gandhāra und Mathurā beginnt sich die ikonische Darstellung im gesamten buddhistischen Kulturraum durchzusetzen. Dies allerdings, wiederum ähnlich wie im Christentum, nicht ohne Widerspruch. Dieser gewann an Raum in einem Einflussfeld, dass vor allem durch die Literatur der Prajñāpāramitā geprägt war, einer philosophischen Richtung, die ab dem 1. Jhd. enormen Einfluss auf die buddhistische Kultur ausübte und speziell die mahayanistischen Schulen primär prägte. In einem prominenten Sutra dieser Richtung, dem Diamantsutra, heißt es:

“‘Subhūti, what do you say? Can one discern the Tathāgata by means of his bodily characteristics?’ ‘No, World-honored One. One cannot see the Tathāgata by means of bodily characteristics. Why not? The bodily characteristics taught by the Tathāgata are actually not bodily characteristics.’ The Buddha said to Subhūti: ‘All things that have characteristics are false and ephemeral. If you see all characteristics to be non-characteristics, then you see the Tathāgata.’”57Übersetzung nach Müller, Charles: The Diamond Sutra. Translation with the Chinese Original, in: http://www.acmuller.net/bud-canon/diamond_sutra.html#div-6.

Übersetzt man den Text an dieser Stelle etwas genauer, dann stellt der Buddha die Frage an Subhuti, ob es möglich ist, den Buddha zu sehen (見), wenn man das sieht, was körperlich zu sehen (身相)58Das Zeichen 相 setzt sich zusammen aus einem Baum und einem Auge, was darauf hindeutet, dass ein Auge das sieht, was natürlich gewachsen da ist. 身bedeutet schlicht Körper. ist. Am Ende des Kapitels geht es aber gerade darum, dass man den Tathāgata (den So-Gekommenen, ein anderer Name für den Buddha) sieht, wenn man alles, was physisch sich zeigt, als das sieht, was sich nicht zeigt. Erinnern wir uns an die Analyse des Namens Buddha und die Stimmigkeit der ersten anikonischen Darstellungen (s. o.) dann zeigte sich dort bereits dieselbe Struktur.

Die Logik, die das Diamantsutra ansetzt, ist im gesamten buddhistischen Kanon der Prajñāpāramitā-Literatur bekannt und leitend. Man könnte sie allgemein folgendermaßen formalisieren: a=⌐a => a=a. Also nur wenn man sieht, dass alles, was zu sehen ist (a), tatsächlich nicht zu sehen ist (⌐a), sieht man, was wirklich zu sehen ist (a=a).59Vgl. zu dieser Logik Shimizu, Masumi: Das „Selbst“ im Mahāyāna-Buddhismus in japanischer Sicht und die „Person“ im Christentum im Licht des Neuen Testaments, Leiden 1981, 17–21. Das Diamant-Sutra geht diese Logik an zahlreichen, oft lebenspraktischen Beispielen durch, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Wichtig ist aber die sich bereits andeutende ästhetische Konsequenz: Das Sehen dessen, was sich visuell zeigt, ist ein Nicht-Sehen. Sieht man, dass dieses Sehen ein Nicht-Sehen ist, beginnt man zu sehen. Vollendet man diesen Prozess der Einsicht, wird man ein Sehender, ein Buddha.

Der weitreichende Einfluss, den die Prajñāpāramitā-Literatur vor allem in China60Vgl. zur Verbreitung des Prajñāpāramitā-Gedankens in China detailliert Cheung, Martha / Neather, Robert: An Anthology of Chinese Discourse on Translation (Volume 2). From the Late Twelfth Century to 1800, Milton 22016, 72–73. erhielt, führte zu einem abgeschwächten Ikonoklasmus im buddhistischen Kontext dieses Kulturraumes. Es wurden zwar keine Bildnisse zerstört, jedoch wurde Abstand genommen von bildlichen Darstellungen, da die Schriften selbst davon abrieten, sich ihnen zuzuwenden. Die vollzogene Praxis der Prajñāpāramitā besteht primär darin, einzusehen, dass das einzig Wirkliche, „ohne Namen und ohne Zusehendes“ (無名無相) ist.61Vgl. zur Kommentierung dieser Qualifizierung des Absoluten mit Bezug auf den späteren Ikonoklasmus in China Wenzel: Anikonik 283 Dem, was ohne Namen und ohne Form ist, eine Form zu geben und dieser dann Verehrung zukommen zu lassen, widerspricht der Praxis der Prajñāpāramitā.

Eines der zentralsten Prajñāpāramitā-Sutren, das Herz Sutra, etabliert jedoch an der wahrscheinlich in der westlichen Buddhismus-Rezeption prominentesten Stelle, eine andere Sichtweise, die nochmals die ästhetische Analyse erweitert. So heißt es im Sutra:

Form ist gleich der Leerheit                                                           色不異空
Leerheit gleich der Form                                                               空不異色

Um die Wichtigkeit dieser Stelle herauszustellen, fährt das Sutra fort:

Form ist wirklich diese Leere                                                         色即是空
Diese Leere ist wirklich diese Form                                                 空即是色

Diese Aussage kann wiederum ästhetisch in eine Richtung interpretiert werden, die uns bereits bei den frühen anikonischen Darstellungen begegnet ist. Der Begriff der Leerheit spielt hierbei eine große Rolle. Ohne diese hier hinreichend einholen zu können, sei die Semantik dahingehend zusammengefasst, dass dieser Begriff primär einen apophatischen Charakter besitzt, der in den meisten Schulen radikal ausformuliert wird. Leerheit ist gerade das, was „ohne Namen und ohne Zusehendes“ ist.62Zum Begriff der Leerheit als apophatischer Chiffre vgl. vor allem das Mūlamadhyamakakārikā Nāgārjunas z.B. in Weber-Brosamer, Bernhard / Back, Dieter Michael: Die Philosophie der Leere. Nāgārjuna’s Mūlamadhyamaka-Kārikās. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einführungen, Wiesbaden 1997, 92–104. Als Schlüsselstelle auch 83. Das, was tatsächlich ist, ist jenseits all dessen, was der Mensch wahrnehmen könnte. Die Welt der Phänomene wird schlicht vom Bewusstsein des Menschen konstruiert, entspricht aber nicht dem, was wirklich ist. Das, was wirklich ist, ist jenseits aller Konstruktionen, also jenseits all dessen, was man meint zu sehen.

Oft ist dieser Aspekt auch unter dem Begriff der Anātman-Lehre, die Lehre des Nicht-Selbst, bekannt. Diese macht nochmals gesondert die eigentliche Sinnhaftigkeit der anikonischen Darstellung zugänglich. Ihre Grundaussage besteht darin, dass es kein beständiges Selbst in irgendeinem Phänomen gibt, somit auch nicht in der Person eines Menschen. Das, was wir unter Sehen verstehen, widerspricht jedoch diametral dieser Einsicht, weil unser Sehen verobjektivierend ist. Der Buddha als der, der diesen Zusammenhang sieht, ist auf den Darstellungen nicht zu sehen. Dieses Nicht-Sehen eröffnet aber gerade eine Einsicht in die Leerheit der Person, in ihre Nicht-Selbst-Haftigkeit. Das heißt jedoch nicht, dass in der Person nichts da ist. Das, was da ist, ist jedoch jenseits von Sein und Nichtsein und somit jenseits jeglicher Kategorie des dichotomen Bewusstseinsvollzugs.63In gewissem Sinn ist dies die Grundaussage des Mūlamadhyamakakārikā Nāgārjunas. Vgl. nochmals ebd. Es geht ja gerade darum, zu lernen, dass das, was man gemeinhin Sehen nennt, ein Nicht-Sehen ist. Das, was aber die tatsächliche Wirklichkeit bildet, ist leer in dem Sinne, dass es keinerlei Kategorien im menschlichen Bewusstsein gibt, die dieser Wirklichkeit in ihrer Auslegung gerecht werden.

Ein weiterer Aspekt, der hier nur angerissen werden kann, der aber für das Verständnis von entscheidender Bedeutung ist, ist die buddhistische Praxis des Nicht-Zweiens. Allgemein wird diese aus westlicher Perspektive oft schlicht als Meditation bezeichnet.64Vgl. zu diesem Zusammenhang Röllicke, Hermann-Josef: Der Ursprungsgedanke des Chan im China des 7. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.): Denken der Religion, München 2010, 231247, hier 243–244. Es geht buddhistischen Mönchen in den meisten Schulen jedoch nicht darum, sich selbst als Mensch in die Wirklichkeit zu vertiefen, sondern darum, zu Nicht-Zweien. Das heißt, wenn all das Sehen des Alltagsbewusstseins ein Nichtsehen ist, dann liegt der Ursprung des Nichtsehens in der Zweiung, darin, dass jede Form von Bewusstsein immer intentional ist, das heißt immer Bewusstsein von etwas. Das Sehen, zu dem die frühen Reliefs und die Prajñāpāramitā-Literatur anleiten wollen, ist jedoch ein Sehen, dass diese Zweiheit nicht kennt, weil es jegliche Zweiheit überwunden hat.

Betrachten wir nun den Gedanken der Transzendenz, der bei der Analyse früher jüdischer und christlicher Anikonik leitend war, und der drohte, in der Anfangsanalyse auch auf die buddhistischen Traditionen projiziert zu werden, bringt der Gedanke der Nicht-Zweiheit eine neue, ästhetische Perspektive mit sich, die im Herz-Sutra deutlich wird und von weitreichender Relevanz ist. Es kann nämlich nicht so sein, dass der Buddha, der auf den Reliefs nicht zu sehen ist, einfach in einer Jenseitswelt lebt. Er ist ja tatsächlich da. Er geht tatsächlich die Leiter herunter. Die Unbegreiflichkeit dessen, was den Erwachten ausmacht und was in seiner Unsichtbarkeit zum Ausdruck kommt, ist jedoch, durch den Gedanken des Nicht-Zweiens, nicht verschieden von der eigentlichen Unbegreiflichkeit all jener, die um ihn herumstehen. Die Form, die in ihnen Ausdruck findet, ist nichts anderes als die Leere, die sich im Buddha zeigt. Auch ihre Form ist gleich der Leerheit, die sich ihnen in der Person des Buddha präsentiert.

Doch gibt es auch Darstellungen, die diesen Zusammenhang nahezu unmissverständlich klar machen? Im Stupa von Amrāvatī wurden ca. im 2. Jhd. einige Reliefs angefertigt, die zumindest auf diesen Zusammenhang deuten (Abb. V und VI).65Es mag Zufall sein, dass sich genau zu dieser Zeit die Prajñāpāramitā-Literatur immer weiter verbreitete und an weitreichenden Einfluss gewann. Ein direkter Zusammenhang kann nicht hergestellt werden und bleibt an dieser Stelle spekulativ, obwohl er die buddhologische Sinnhaftigkeit der Stehle sehr gut erläutern würde. Diese Darstellung darauf zu reduzieren, dass oben der dharma abstrakt und unten der Buddha verehrt wird und eine dritte Darstellung des Sangha, also der Gemeinde, fehle (Vgl. zur Diskussion dieser These von Seckel Wenzel: Image 272.), ist mehr als fragwürdig. Der Satz des Herz Sutra scheint in diesen Abbildungen zumindest von seiner Bedeutung her dargestellt: Die Leere als die absolute Unbegreiflichkeit des Erwachten ist die Form, die er als Śākyamuni-Buddha angenommen hat. Der Logik der Prajñāpāramitā folgend kann man somit sagen, dass sobald der Sinn der anikonischen Darstellung verstanden ist, der Buddha Form annimmt.

Abbildung V: Trommelplatte (mit Buddha, anikonisch), ca. 2. Jhd. n. Chr. (Amrāvatī), Kalkstein, Government Museum, Chennai (Indien).

Abbildung VI: Trommelplatte (mit Buddha, ikonisch), ca. 2. Jhd. n. Chr. (Amrāvatī), Kalkstein, 136,60×86,20×16,00cm, British Museum, London.

Das obere Relief stellt noch den Buddha traditionell anikonisch mit dem Symbol des Dharma-Rades dar. Die untere zeigt eine figürlich menschliche Darstellung in der der Buddha auf einer Sänfte stehend aus dem Stupa getragen wird. Es handelt sich eindeutig um ein und denselben Stupa. Auch wenn der Zusammenhang mit der Prajñāpāramitā-Literatur hier nicht nachweislich ist, kann man doch vermuten, dass zumindest die Grunderfahrung, aus der diese Form der Literatur zunächst erwachsen ist, bereits in den Reliefs von Amrāvatī gegenwärtig war.

Die oben ausgeführte Logik des soku-hi, die aus der Prajñāpāramitā deduziert wurde, lässt sich hier ebenfalls in bildhafter Darstellung wiederfinden. Nur wenn man sieht, dass der figürliche Buddha der unteren Darstellung als das zu sehen ist (a), was nicht zu sehen ist (obere Darstellung/⌐a), dann sieht man den Buddha als das, was er ist (a=a). Zu rechnen ist jedoch damit, dass diese Logik nicht allein Amrāvatī zugrunde liegt, und auch nicht auf die Lektüre der Prajñāpāramitā zu beschränken ist. Eher ist es so, dass überall, wo der Buddha als Figur, als Mensch dargestellt wird, er als das zu sehen ist, was eins ist mit der Unfassbarkeit, welche eben dann zu sehen ist, wenn man die Augen geöffnet hat, wie der Buddha. Die Form des Buddha (unten) ist nicht verschieden von seiner Leerheit (oben). Dies scheinen uns die Reliefs von Bharhut, Sāñcī und Amrāvatī in ihren zahlreichen Darstellungen fast mit didaktischer Methodik vermitteln zu wollen.

V. Ästhetische Zusammenschau

Betrachtet man die semantischen Begründungsmuster, die den jeweiligen anikonischen Darstellung zugrunde liegen, so zeigen sich zunächst tatsächlich zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen jüdisch-christlichen Bezugssystemen und frühen buddhistischen Strukturen. Dabei liegt eine der zentralen Intentionen früher anikonischer Darstellungen auf beiden Seiten in der eigentlichen Transzendenz dessen, was sie versuchen abzubilden. Der Bundesgott JHWH ist weder ein Ereignis noch ein materielles Objekt des weltlichen Zusammenhangs. Ihn figürlich herzustellen, würde somit immer das Uneinschränkbare seines Wesens, das ja gerade dargestellt werden soll, einschränken. Eine figürliche Darstellung wäre somit gerade keine Darstellung dessen, was gemeint ist.

Ähnliches gilt für die frühen buddhistischen Bezugssysteme. Auch hier ist das Wesen des Erwachten weder ein Welt-Ding noch ein Ereignis der Welt. Die Darstellungen zeigen auch eindeutig, dass es sich beim Buddha um etwas ganz anderes handelt als um eine historische Person. So hält auch Claudia Wenzel fest:

“[I]t might be said in conclusion that the early ‘aniconic’ phase of Indian Buddhism seems to share with Christianity the notion that the highest truth – Buddhahood or enlightenment, and the godhead respectively – was ultimately invisible.”66Wenzel: Image 272.

Das Problem, um das es an dieser Stelle also in beiden Bezugssystemen geht, ist das von Wirklichkeit und Darstellung: Wenn die Wirklichkeit, die darzustellen ist, jenseits allen Darstellbaren liegt, so kann sie nur dargestellt werden als das, was in der Darstellung jede Darstellung transzendiert. Beide Kulturkontexte haben auf ihre Weise versucht, dieses Problem künstlerisch zu lösen. Beiden gemeinsam ist ebenfalls, dass sie einen Rahmen geschaffen haben, der eindeutig die Anwesenheit dessen deutlich machte, was sich nicht darstellen lässt. Die beiden Cheruben machten unmissverständlich klar, dass in dem Raum, den sie einfassten, die Gegenwart dessen geschah, der sich nicht darstellen ließ. Auf diese Weise wurde aber der leere Raum zwischen den Cheruben gerade zur Darstellung des Nichtdarstellbaren. Die zahlreichen frühen anikonischen Darstellungen des Erwachten weisen eine ähnliche Struktur auf. Auch in ihnen wird die Präsenz des Buddha unmissverständlich deutlich. Gerade diese Deutlichkeit lässt aber sein Wesen als das, was sich nicht gestalthaft darstellen lässt, deutlich werden.

Ohne in tiefgreifende Projektionen zu verfallen, sei noch eine weitere bemerkenswerte Ähnlichkeit festgehalten: In beiden Kulturen schien zu einer ähnlichen Zeit das Bedürfnis nach figürlichen Darstellungen aufgekommen zu sein.67Vgl. zum Folgendem nochmals ebd., 275–285. Im christlichen Kontext kann hier eher davon ausgegangen werden, dass das Bedürfnis der Darstellung schon immer bestand, mit der Ausdifferenzierung einer Offenbarungstheologie um die Person Christi jedoch eine andere Dynamik annahm. Denn nach paulinischer Theologie ist Christus ja gerade das Bild des unsichtbaren Gottes. Die Diskursebene vertieft sich weiter, wenn man den Streit zwischen Ikonodulen und Ikonoklasten einbezieht, der eine ähnliche Stoßrichtung annimmt, wie der eigentliche Streit zwischen bildlicher und bildloser Darstellung des Bundesgottes JHWH. Wiederum geht es um die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Bild. War bezüglich des Bundesgottes JHWH und dem Zusammenhang des zweiten Gebotes unmissverständlich klar, dass sich Bildnisse im jüdischen Kontext verbieten, änderte sich dies im Christentum dahingehend, dass sich Gott in Christus selbst dazu entschieden hat, sich ansichtig zu machen. Die Frage war dann, ob und wie es dem Menschen möglich war, diese Ansichtigkeit in Christus erneut herzustellen, also künstlerisch abzubilden. Im Christentum wird die leitende Legende des Evangelisten Lukas ausformuliert, um im Verlauf des 8. Jhd. der ikonoklastischen Bewegung in Byzanz entgegenzuwirken. So soll Lukas die erste wahrhaftige historische Ikone angefertigt haben, auf der dann alle weiteren beruhten. Diese wurden jedoch keinesfalls als schlichte Abbildungen der historischen Persönlichkeit Jesu verstanden, sondern als seine lebendige Gegenwart.68Der Zusammenhang zwischen dieser Legende und den späteren Kunstanfertigungen wird eindrücklich im Bild Lukasmadonna von Derick Baegert dargestellt. Baegert malt die Scene, in der der heilige Lukas die Maria mit dem Christuskind malt. Danach mal jedoch er selbst jene Madonna mit dem Christuskind. Baegert selbst stellt sich somit in die Sukzession der Bildfolge des Lukas, die allen weiteren Abbildungen von Maria und Christus Autorität verleiht.

Auch dieser Zusammenhang zeichnet sich recht ähnlich im buddhistischen Kontext nach und wird in der Legende des Königs Udyāna ausformuliert.69Vgl. auch Wenzel: Image 275–276. König Udyāna war betrübt über die Abwesenheit des Buddha, als dieser in den Himmel hinauffuhr, um seiner Mutter die Lehre zukommen zu lassen. Daraufhin schuf er ein Abbild des Buddha aus Sandelholz. Nachdem der Buddha aus dem Himmel wieder auf die Erde herabgestiegen war, würdigte er Udyānas Bildnis und formulierte die Verdienste, die jenem Menschen zukommen, der ein Bildnis des Buddhas anfertigt. Die Legende des König Udyāna steht nicht allein. Neben ihr gab es zahlreiche weitere Legenden, die von der Anfertigung von Bildnissen berichteten. Ihre Funktion ist dabei immer die gleiche: Es muss eine innere Sinnhaftigkeit für die anikonische Tradition gegeben haben, der man entgegenwirken musste. So macht es Sinn, dass die Legende Udyānas gerade in Gandhāra abgebildet wird, um die Transformation zur ikonischen Tradition zu moderieren.

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sowohl in christlichen als auch in buddhistischen Kontexten immer vor einer Verwechselung des Abbildes mit seinem Ursprung gewarnt wurde. Im buddhistischen Kontext ist es die Literatur der Prajñāpāramitā, die diese Gefahr deutlich ausdrückte und letztlich wiederum zu einem Ikonoklasmus führte. Was sie jedoch deutlich macht, ist dass der Buddha in all seinen Darstellungen das bleibt, was nicht darstellbar ist. Im Mahayana Sutra über die Verdienste der Bildherstellung70Der chinesische Titel lautet: 佛說大乘造像功德經 (T#694, 16:790–796) wird die Legende des Udyāna im Zuge der Entwicklung auch weitergeführt. Udyāna, so heißt es, bereute angesichts der uneinholbaren Wirklichkeit des Buddha, ein Bildnis erschaffen zu haben. Der Buddha jedoch beschwichtigte ihn, indem er ihm versicherte, dass er, obwohl das Bildnis seiner Wirklichkeit nicht gerecht wird, unzähligen Wesen den Weg zum wahren Vertrauen in den Buddha gebahnt habe.71Wenzel: Image 286. Die Bildnisse galten in der weiteren Tradition des Mahayana somit als Geschickte Mittel (skt. upāya), also als Weisen, die der Buddha selbst wählte, um sich ansichtig und seine Lehre zugänglich zu machen.72Diese Ansicht unterscheidet sich von dem üblichen hermeneutischen Zweck des Upaya Gedankens, der eher angestrengt wurde, um ein integratives Ranking der Systeme vorzunehmen. Vgl. zu diesem Gedanken: Federmann, Asaf: Literal Means and Hidden Meanings. A New Analysis of Skillful Means, in: Philosophy East and West 59/2 (2009), 125–141. Dies führt wiederum zu einer gewissen Ästhetik, also einer rechten Weise, mit der die figürliche Darstellung des Buddha angeschaut werden muss, wenn man sie verstehen will.

Bei aller Diversität der buddhistischen Kultur, die bereits im 2 Jhd. n. Chr. vorlag und sich vor allem durch die Übersetzung nach China verstärkte, scheint das Grundproblem ziemlich einheitlich zu sein: Wie lässt sich das abbilden, was jenseits alles Bildlichen liegt? Beziehen wir an dieser Stelle das oben bereits erwähnte Herzsutra und den Zentralsatz: „Form ist gleich der Leere“ ein, so erweitert sich der Zusammenhang folgendermaßen: So wie der Buddha in seiner Form lediglich die Formlosigkeit der Leerheit der letzten Wirklichkeit darstellt, so zeigt sich diese Formlosigkeit in jeder erscheinenden Form. Das Relief von Amrāvatī (Abb. V) liefert somit eine ästhetische Auslegung der Gesamtwirklichkeit. Wenden wir hier den Begriff der Ästhetik als ein gewisses Verstehen an (s. o.), dann wäre dieses dann gegeben, wenn man beim Betrachten der figürlichen Darstellung des Buddha die Leerheit sieht. Wer in der Betrachtung eine historische Persönlichkeit vor Augen hat, verfügt nicht über das Verständnis, man könnte sagen nicht über die Ästhetik, die nötig wäre, das zu sehen, was wirklich zu sehen ist. Wichtig ist, dass der beschriebene Zusammenhang nicht alleine für den Buddha gilt. Dieser bildet lediglich die Antwort auf die Frage, was es überhaupt heißen könnte, zu sehen. Es hieße, nochmals abschließen, zu sehen, dass das, was wir allgemein Sehen nennen, ein Nichtsehen ist. Dies erweitert den Modus, in den uns die Reliefs in der Auslegung der Prajñāpāramitā einführen, auf die allgemeine Weltwahrnehmung. Auch ein Baum wird nur dann wirklich gesehen, wenn man in ihm die Leerheit sieht und nicht den Baum als positiviertes Objekt.

Was sieht ein Mensch nun, wenn er Christus sieht? Nach Joh 14,19 den Vater. Das heißt aber, dass jemand, der wiederum rein den Zimmermannssohn Jeshua ben Josef sieht, nicht das ästhetische Vermögen besitzt, zu verstehen, was er sieht. Aber wenn er in Jesus den Vater sieht, dann begegnet ihm das absolut Unbegrenzte in der Gestalt eines begrenzten Menschen. Wenn wir verstehen, dass der buddhistische Begriff der Leerheit nicht einfach eine Negation darstellt, sondern auf etwas absolut Transzendentes, Uneinholbares verweist, dann wäre der Satz des Herz-Sutra „Form ist gleich dieser Leere“ in gewisser Weise, wenn auch nur unter Vorbehalt und mit einem gewissen Maß christlicher Aneignung, auf die Person Jesu anwendbar. Denn in dieser Form Jesu, in diesem konkreten Jeshua ben Josef, begegnet der absolut uneinholbare Schöpfungshintergrund des Vaters selbst. Wer das sieht, schaut Christus und besitzt das rechte ästhetische Vermögen, das rechte Verstehen, das weit über die schlichte Verarbeitung des sensualen Inputs hinausweist. Die buddhistische Darstellung kann uns an dieser Stelle eine Dimension erschließen, die dem Christentum zumindest nicht ganz fremd ist. Denn auch die Hermeneutik der Öffnung des Geschehens der Schau des Vaters auf die gesamte Schöpfung ist christlicherseits durchaus möglich. Wenn die Hingabegestalt, die in Christus begegnet, die Gestalt des Vaters ist, dann ist es die Hingabe der Liebe, die der gesamten Schöpfung zugrunde liegt. Ist dem so, dann wäre die rechte Ästhetik, die auch auf alle begegnenden Schöpfungswerke anzuwenden wäre, jene, die den Vater als den liebenden freiheitlichen Schöpfungshintergrund sieht. Dieses Sehen wäre aber ein Verstehen, dass jeglichen direktkategorialen Zugriff übersteigt, weil in ihm jegliche phänomenale Positivierung des menschlichen Bewusstseins aufgebrochen werden müsste. Dies hieße nach Hamann „Gott über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und ihm allein zu vertrauen“73Vgl. unter III. Ästhetische Grundspannung. und wäre in diesem Sinne auch die älteste Ästhetik.

Die Liebesdimension des freiheitlichen Schöpfungshintergrundes ist aber kenotisch strukturiert. In Christus zeigt sich der Vater ja nicht anders, als er tatsächlich ist. Somit zeigt sich insbesondere in der Kreuzesgestalt die Hingabegestalt des Vaters als die kenotische Wirklichkeit, die allem zugrunde liegt. Übersetzt man an dieser Stelle Kenosis korrekt mit dem Begriff der Entleerung, weisen die beiden Konzepte der Kenosis und der buddhistischen Leerheit zwar immer noch in verschiedenen Richtungen74Für eine Zusammenfassung der Debatte um die Kompatibilität der Begriffe Śūnyatā und Kenosis vgl. Botz-Bornstein, Thorsten: Kenosis, Dynamic Śūnyatā and Weak Thought. Abe Masao and Gianni Vattimo, in: Asian Philosophy 25/4 (2015), 358–383., gleichzeitig jedoch auf eine enorme Resonanz. Verstehen wir Kenosis nicht einfach als einen Tätigkeitsbegriff, sondern auch als eine Chiffre für den Akt, der die Schöpfung ins Sein gerufen und in diese Schöpfung ebenfalls den Sohn gesandt hat, um die Schöpfung von innen her zu erlösen[75], so bildet diese Dimension den inneren Kern der Schöpfung selbst, der gleichzeitig für die menschliche Vernunft uneinholbar ist. Er erhält somit notwendig eine gewisse apophatische Dimension, die uns auch beim Begriff der Leerheit im buddhistischen Kontext entgegentritt.

Auf diese Weise versuchen alle Formen der anikonischen Darstellung, dem Betrachter ein neues Sehen, eine neue Ästhetik zu vermitteln.75Im Sinne Hamanns handelt es sich natürlich um die älteste und erste Ästhetik. Sie wirkt für uns neu, weil sie von dem, was wir unter Sehen verstehen, so weit entfernt scheint. Bezüglich der Begriffe „älteste“ und „jüngste“ Ästhetik vgl. Hamann, Johann Georg: Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar von Sven Aarge Jorgensen (Sokratische Denkwürdigkeiten 1). Stuttgart 1968, 147. In diesem müsste sich in gewisser Weise auch die Frage der Transzendenz auflösen. Buddhistisch betrachtet schlicht deshalb, weil das Ansetzen einer transzendenten Ebene, in der der Buddha tatsächlich positivistisch sichtbar wäre, allem wiederspräche, was uns die Reliefs und auch die Prajñāpāramitā zu vermitteln versucht. Der Buddha ist ja in dem Relief tatsächlich anwesend. Es gibt dort keine Hinterwelt. Der Transzendenzbegriff wäre ein ästhetischer. Wir besitzen schlicht nicht das Verstehen in unserem Sehen, das nötig wäre, um zu Sehen, was sich im Buddha tatsächlich ansichtig macht.

Diese Hermeneutik eröffnet auch einen zu vielen modernen Zugängen alternativen Zugang zum Christusgeschehen. In Christus zeigt sich wirklich nicht schlicht eine historische Gestalt, sondern der Vater selbst. Damit eröffnet sich in Christus jedoch der Schlüssel für das Verständnis des gesamten Schöpfungszusammenhang und damit auch für eine Ästhetik, die diesen auf die rechte Weise wahr-nimmt. In dieser Wahr-Nehmung wäre Christus wiederum nach Hamann „Hauptschlüssel aller unserer Erkenntnis“.76Vgl. zur Kommentierung dieses Hamann-Zitates Bayer: Zeitgenosse 102. Er wäre dies, weil sich in ihm das, was sich eigentlich vernunftgemäß unvermittelbar gegenübersteht, Gott und Mensch, als eine unverbrüchliche Einheit präsentiert. Die Form, die sich in Jesus zu sehen gibt, ist gleich der kenotischen Leere des Vaters, die sein Liebeswesen ausmacht, das die Schöpfung ins Sein gerufen hat. Somit lässt sich aber diese Leerheit in jeder begegnenden Form erkennen, wenn sich die Wahr-Nehmung des Menschen in die Ästhetik weiten lässt, die uns die Gestalt Christi vermitteln möchte und die uns diese semantischen Bezüge der anikonischen Darstellung des Buddha zu erschließen geholfen haben.

Ebene 1

Gott sehen?

Von Gott gibt es keine treffenden Bilder. Wo von Gott die Rede ist, richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine kaum jemals umschreibbare Größe, die sich jeder Erkenntnis entzieht. Stets sieht sich die Frage nach Gott mit der nachdrücklichen Unsichtbarkeit Gottes konfrontiert. Alles Erkennen Gottes beginnt mit einem Scheitern; am Anfang der Theologie steht die Einsicht, dass Gott sich nicht sehen lässt. Insofern lässt er sich auch nicht darstellen.

Umso bemerkenswerter ist die unabsehbare Fülle von Bildern im Christentum, die auch Gott als Gegenstand der Darstellung nicht aussparen. Angesichts der Unsichtbarkeit Gottes scheinen sich solche Bilder eher der strengen Beurteilung als der aufmerksamen Betrachtung zu empfehlen: Sind sie nicht allesamt unverbindliche oder eigentlich leere Behauptungen, falscher Schein zur Irreführung, wenn nicht zur Betäubung der Sinne? Oder wäre diese Täuschung dann doch durch ein vielleicht liberales, vielleicht abgenötigtes Zugeständnis an eine gewisse menschliche Schwäche wenigstens notdürftig zu rechtfertigen – eine Konzession an den schier unüberwindlichen menschlichen Hang zur buntbildlichen Ausmalung notorisch undeutlicher Vorstellungen? Solche Bilder aus menschlicher Schwäche blieben allerdings mit dem Makel behaftet, den Reizen sinnlicher Konkretionen wider besseres Wissen den Vorzug vor Abstraktionen zu geben, die sich der alle Ausmalung überschreitenden Unvorstellbarkeit zumindest vorsichtiger nähern.

„Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen“, bittet Mose den Herrn, mit dem er auf dem Berg langwierige Verhandlungen über den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel führt (Ex 33,18). Doch selbst in seiner exklusiven Rolle des Unterhändlers bleibt Mose das Gegenüber von Angesicht zu Angesicht verwehrt, „denn kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20). Allerdings wird Mose auch nicht einfach an die visuell diffuse Anonymität der Wolke verwiesen (Ex 34,5) oder gar gleich ganz an die abstrakte Gestaltlosigkeit (Dt 4,13). Vielmehr gibt Gott sich dem Mose in einer eigentümlichen Verschränkung von Verweigerung und Erfüllung der Schauerwartung zu sehen: als Rückenansicht des Vorübergegangenen (Ex 33,23).

In dieser Szene lässt sich ein Grundmodell auch der Theologie des Bildes erkennen: Sichtbarkeit ist bei Gott nicht einfach beiläufige Begleiterscheinung alles Gegebenen, sondern tritt mit einem Anspruch eigener Art auf. Dieser Anspruch erwächst aus Gottes Überschreiten aller Sichtbarkeit, wird dadurch aber keineswegs einfach getilgt. Vielmehr bringt Gottes Unsichtbarkeit eigene Formen der Sichtbarkeit hervor. In solchen Formen sucht die Unsichtbarkeit nach Manifestationen ausgerechnet in ihrem Gegenteil, weil es auch für die Unsichtbarkeit keine prägnantere Evidenz gibt als die des Sichtbaren.

Auch der christlichen Gottesbeziehung ist das Wechselverhältnis von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit wesentlich. Zwar wird das Verlangen nach Sichtbarkeit enttäuscht, aber nicht durch schiere Unsichtbarkeit, sondern durch eine das Verlangen verstörende Sichtbarkeit. Der Anspruch der Unsichtbarkeit relativiert nicht die Sichtbarkeit, sondern problematisiert sie: Alles andere als verschämtes Zugeständnis oder ausschmückendes Beiwerk, wird das Sichtbare in Jesus Christus, im Sakrament wie auch in der Schöpfung zum ausgezeichneten Ort der anschaulichen Vergegenwärtigung dessen, der sich dem menschlichen Blick entzieht, sich gerade darin aber in seiner Gegenwart unter den Menschen zeigt.

Im Horizont dieser komplexen Verschränkung von Sichtbarkeit und Transzendenz jenseits aller Sichtbarkeit steht auch die Geschichte der christlichen Bildproduktion seit ihren Anfängen im 3. Jahrhundert. In Bildwerken wird dieser Verschränkung Ausdruck verliehen; in Bildwerken wird diese Verschränkung dann auch bedacht – und zwar in eben jenem Medium, in dem sie ausgetragen wird: im Bild. Die Bildtheologie folgt den Formen und Entwicklungen dieser Verschränkung.

Bilder verdanken die besondere Eignung als Medium christlicher Religiosität ihrem Vermögen, einerseits Dingen und Vorstellungen sichtbare Gegenwart zu verleihen und sie andererseits in Distanz zu ihrer Gegenwart zu halten. Dieses Vermögen der Bilder lässt sich am Begriff der Darstellung erläutern, der einmal den dargestellten Gegenstand meint, dann aber auch das Verfahren, mit dem der Gegenstand zur Darstellung gebracht wird. Als Darstellung ist das Bild gekennzeichnet durch die ikonische Differenz (Gottfried Boehm) zwischen seinem Thema und dem Verfahren, mit dem dieses artikuliert wird. Das Verfahren ist Methode, ein Umweg, der das Thema zeigt und es gleichzeitig der unmittelbaren Gegebenheit entzieht. Zudem bringt die Darstellung als Verfahren in das Bild eine eigene Materialität, eigene Valeurs und einen eigenen Duktus ein, die sich nicht an der Unterscheidung bestimmter Grade der Ähnlichkeit mit dem Dargestellten messen lassen. Sie erschließen sich statt dem wiedererkennenden dem sehenden Sehen (Max Imdahl).

Bilder bewerkstelligen Vergegenwärtigungen in Sichtbarkeit, wahren zugleich aber die Unerreichbarkeit des Vergegenwärtigten. Bilder artikulieren die Spannung von Visualität und Transzendenz, wie sie auch religiöse Erfahrungen prägt. Was in biblischen Texten, in Legenden und in religiösen Erfahrungszeugnissen umständlich geschildert wird, fassen Bilder in die unmittelbare Konfrontation als augenblickliches Ereignis: Die absolute Transzendenz des Dargestellten wird im schärfsten Gegensatz der sinnlichen Gegenwart ihrer visuellen Darstellung gegenübergestellt. Das Bild kultiviert und reflektiert die fundamentale Spannung zwischen Transzendenz und sinnlich-materiell gefasster Visualität als Spannung einer Darstellung, die den gegensätzlichen Zusammenhang von Transzendenz und visueller Erscheinung prägnanten Ausdruck verleiht. Das gelungene Bild Gottes manifestiert in eben dem Maße Gottes visuelle Gegenwart, wie es seine unerreichbare Transzendenz bezeugt.

Christliche Bildtraditionen haben diese Ambivalenz zu eigenen Konzepten der Darstellung ausgearbeitet. Zu ihnen gehören Inszenierungen lichthafter Erscheinung und hieratischer Geometrie, die Ausstattung unscheinbarer Reliquien, auch der schlichten Hostie, mit Gehäusen von enormer visueller Anziehungskraft, schließlich Bildfindungen zu Erzählungen aus den Büchern der Bibel, vor allem aus dem Umkreis der Passion Jesu, die den Blick auf die Stationen des Leidens und den geschundenen Körper mit seinen Wunden lenken. Die christliche Frömmigkeit hat das Spektrum des Bildwürdigen, auch des Bildmöglichen, erheblich erweitert und zuvor unbekannte Bildformen in die Kulturgeschichte eingeführt.

Die Bildproduktion im Christentum erwächst aus den Anforderungen der religiösen Praxis und beschränkt sich keineswegs auf deren schmückendes Beiwerk. Bilder dienen nicht allein der Außendarstellung, sondern in erster Linie der Selbstverständigung des Christentums: Sie fokussieren die Andacht, rücken narrative Überlieferungen in ihren heilsgeschichtlichen Zusammenhang, orientieren die Idee des Sakramentalen, verleihen der Verkündigung des Wortes Lebendigkeit und der Liturgie ihren ausdeutenden Rahmen. Auf diesen Wegen leiten die Bilder schließlich auch das theologische Nachdenken an – selbst dort, wo sich dieses Nachdenken seiner Orientierung an bildlichen Vorstellungen kaum bewusst wird.

Dieses Bewusstsein hat sich in der Theologie erst in einer Art von Rückblick nachhaltig etablieren können: Intensive Verbindungen zwischen bildlicher Vorstellung und theologischer Reflexion werden für vergangene Epochen zum Gegenstand der Forschung, seitdem für die kunst- und religionsgeschichtliche Situation der Gegenwart ein Bruch dieser Verbindungen konstatiert wird. Dieser Bruch wird in die beginnende Moderne datiert, in der auf der einen Seite die Ideale künstlerischer Autonomie das eingebürgerte – und mit ihm auch das christliche – ikonographische Repertoire verdrängen und auf der anderen Seite religiöse Vorstellungen sich zunehmend aus Konstrukten der Imagination lösen und mit dem Anspruch begrifflicher Abstraktionen und doktrinärer Aussageformen behaftet werden. Die Ausdifferenzierung zwischen religiösen und künstlerischen Sinnstiftungssystemen bedeutet eine für die Moderne signifikante Zäsur. Ob mit dieser Zäsur die Geschichte des Bildes als Leitmodell der Theologie tatsächlich an ihr Ende gekommen ist oder ob diese Geschichte von dort her allererst neue und zeitgemäße Perspektiven gewonnen hat, gehört zu den kunst- wie religionsgeschichtlichen Kernfragen, welche die Bildtheologie vorantreiben.

In der longue durée jedenfalls ist das Christentum eine Bildreligion. Bilder stellen in ihrer Fülle, ihrer Vielfalt und in ihren Funktionen eine tragende Säule des Christentums dar, sie interpretieren Texte, definieren die Liturgie und Formen der Frömmigkeit, generieren zuvor nie gekannte Ausdrucksformen, sie provozieren Fragen, die bis ins Zentrum des christlichen Glaubens reichen, und treiben theologische Auseinandersetzungen voran. Die Theologie trägt deshalb eine besondere Verantwortung für die Bilder. Im Spektrum der Wissenschaften gibt es neben der Kunstgeschichte und den Bildwissenschaften kaum eine weitere Disziplin, die von Bilderfragen so grundsätzlich in Anspruch genommen wird wie die Theologie.

Die Bildtheologie entfaltet den grundsätzlichen theologischen Anspruch der Bilder in allen Dimensionen christlicher Praxis mit deren Theorie und befragt sie kritisch. Die bildnerischen Reflexionen werden durch theologische Topoi aufgegriffen, die auf ihre Weise um die Verschränkung von Transzendenz und sinnlich-materieller Manifestation kreisen. Im Zentrum stehen der Topos der Inkarnation, von dort aus die Theologien des Wortes, des Sakramentes und der Schöpfung, in deren Perspektive die Theologiegeschichte wiederum die Bedeutung der Bilder entfaltet hat. Mit dieser Perspektive tritt im Christentum neben die reiche Bildproduktion dann auch die Bildkritik, die bis in grundsätzliche Kontroversen über die theologische Legitimation der Bilder hinabführt.

Die Bildtheologie versteht sich nicht als eine (weitere) Spezifizierung unter den theologischen Disziplinen, denn sie resultiert nicht aus einer Ausdifferenzierung der Theologie in die verschiedenen Aspekte der menschlichen Lebens- und Erkenntniswelt. Die Bildtheologie markiert vielmehr eine Querschnittsfrage der Theologie, die letztlich in der offenbarungstheologischen Grundkonstellation der Beziehung zwischen Gott und Welt verankert ist. Unter der Perspektive des Bildes ist diese Konstellation auf den Kontrast von Transzendenz und visueller Wahrnehmung zugespitzt. Der Bildtheologie kommt die Aufgabe zu, diese fundamentale bildliche Spannung von Transzendenz und Visualität als grundlegende Dimension des christlichen Glaubens in historischer, systematischer, biblischer und praktischer Hinsicht zu reflektieren und zu entfalten. Die Bildtheologie schaut dabei auch auf philosophische, kunst- und kulturwissenschaftliche Ansätze und Methoden mit dem Ziel, im Austausch mit bild- und kunstaffinen Disziplinen den Wegen bildlicher Figuration bei ihrer Vermittlung zwischen transzendenter Bedeutung und visueller Erscheinung nachzugehen.

May you live … The Death of James Lee Byars

Prophetische Pavillons – interesting times

Im Pavillon von Montenegro erwartet die BesucherInnen der Biennale 2019 in drei verwinkelten kleinen, abgedunkelten Zimmern eine Odiseja: Zwei schwarze und einen goldgelben Monolithen platziert Vesko Gagović scheinbar schwebend auf gleißenden Lichtpodesten. Die Quader-Skulpturen sind gänzlich von jeglichem Sockel gelöst, bergen gar eine Antithese zu demselben.

VESKO GAGOVIĆ: Cube, 100 x 100 x 100 cm, Gips/Holz/Farbe/LED-Licht, Palazzo Malipiero, Venedig 2019, Pavilion of Montenegro: Odiseja / An Odyssey / Un’Odissea, 58. Esposizione Internazionale d’Arte – La Biennale di Venezia, May You Live In Interesting Times. 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, May You Live In Interesting Times.

Kuratorin Dobrila Denegri erinnert die Beziehung, in welche die Objekte mit den Betrachtenden treten, an die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Geometrie und Perfektion bei Kasimir Malewitschs Das Schwarze Quadrat (1929)1KASIMIR MALEWITSCH: Das Schwarze Quadrat, 1929, Öl auf Leinwand, 80 x 80 Zentimeter, Tretjakow-Galerie Moskau. Abbildung: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D0%A7%D1%91%D1%80%D0%BD%D1%8B%D0%B9_%D0%BA%D0%B2%D0%B0%D0%B4%D1%80%D0%B0%D1%82._1929._%D0%93%D0%A2%D0%93.PNG#/media/Datei:Чёрный_квадрат._1929._ГТГ.PNG oder James Lee Byars The Table of Perfect (1989)2JAMES LEE BYARS: The Table of Perfect, 1989, Blattgold auf weißem Marmor, 99.7 x 99.7 x 99.7 cm, The Museum of Modern Art, New York City. Abbildung: https://www.moma.org/collection/works/81358 – ein gleichmäßiger Marmorwürfel mit abgerundeten Ecken und Kanten, die Oberfläche von Blattgold bedeckt: Eine geometrische Form der Perfektion, die einen Raum des ewig Unverfügbaren eröffne. Diese altarartige Skulptur habe einen gleichzeitig spekulativen wie votiven Charakter. Für Betrachtende deutet sie einen Ort der Kontemplation an und eröffnet im Zurücktreten aus der gesellschaftlichen Alltagsrealität des Menschen die Frage nach Ritualität. Die Undurchlässigkeit des Objekts setze Betrachtende in performative oder sogar rituelle Bewegung. Für den Künstler geht es zentral um diesen Mythos jener Begegnung zwischen Werk und BetrachterIn: Ein Geheimnis, das nicht offenbart wird. Ein Werk, das über das Level der Rationalität hinausgeht. Es ist die Frage nach dem „Mehr“, nach der Existenz einer Intelligenz, die den menschlichen Verstand übersteigt. Die Utopie und die Realität des wissenschaftlich-technischen Fortschritts der Menschheit werden aufgerufen, jenseits von Raum und Zeit betrachtet. In den niedrigen Räumen des alten venezianischen Palazzo Malipiero werden die materiellen Objekte scheinbar von etwas Immateriellem getragen. Dabei sind sie ebenso fehl am Platz wie ihr Pendant in der afrikanischen Savanne in Stanley Kubicks 2001: A Space Odyssey. Gagović knüpft an dessen Schöpfungsmythen von Ende und Anfang an, fragt nach der menschlichen Existenz und dem, was sie übersteigen könnte.3Vgl. Pavilion of Montenegro, Biennale Arte 2019, 58th International Art Exhibition: The Theatricality of Meaning. Conversation between Dobrila Denegri and Vesko Gagović, in: Handout brochure to Vesko Gagović: odyssey – odiseja – odissea, Venedig 2019.

Auf der Biennale haben die großen Sagas der Menschheit als wiederkehrendes Thema ihr Scheitern. Menschen, die nicht kommunizieren, sich abschotten: Nur über den Hintereingang erreichbar ist das, was die als Natascha Süder Happelmann auftretende Natascha Sadr Haghighian im deutschen Pavillon als Abschottung inszeniert. Eine tröpfelnde Staumauer, dazu Steine, die an Joseph Beuys Unschlitt-Prinzip erinnern: Ein zerlegtes und sich zerlegendes Ganzes, bröckelnde und doch bleibende Lebenskraft. Im nächsten Raum ein politisches Readymade in Übergröße, ganz soziale Plastik: Ein Tomatenwerbeschild und Kisten verweisen auf die Zustände der MigrantInnen, die in Italien auf den Feldern arbeiten. Wir können durch den Seiteneingang entkommen – sie nicht.4Vgl. ZÓLYOM, FRANCISKA: Germany, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2: Participating Countries & Collateral Events (Katalog Ausst.: 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, May You Live In Interesting Times). Venedig 2019, 62.

In ebensolcher Weise erhebt nicht nur die mit dem goldenen Löwen prämierte Opernperformance des litauischen Pavillons5LINA LAPELYTE / VAIVA GRAINYTE / RUGILE BARZDZIUKAITE: Sun & Sea (Marina). Opera-Performance for 13 voices. Pavillon Litauen, Biennale 2019. Vgl.: Lithuania. Sun & Sea (Marina). Opera-Performance for 13 voices, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2 110f. den moralischen Zeigefinger, auch Laure Provost mahnt mit Deep See Blue Surrounding You als französischem Beitrag die Verschmutzung der Weltmeere an.6LAURE PROVOST: Deep See Blue Surrounding You / Vois Ce Bleu Profond Te Fondre. Pavillon Frankreich, Biennale 2019. Vgl.: France. Deep See Blue Surrounding You / Vois Ce Bleu Profond Te Fondre, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2 58f. Beide werden zur selbsterfüllenden prophetischen Vorhersage, wenn Venedigs UNESCO-geadelte Bausubstanz in diesen Tagen vor den Augen der Weltöffentlichkeit im Jahrhunderthochwasser der Lagune versinkt – dabei versperren zwischen den Palazzi die Kreuzfahrtschiffe wie bedrohliche Hochhausfronten höhnisch die Sicht auf die Weite der Serenissima.

Gesellschaftliche und (welt-)politische Missstände zu benennen, Veränderungen und technischen Fortschritt zu thematisieren, ohne zu verteufeln – die Gegenwart der „interesting times“ stellt jene Herausforderung, die in ihren künstlerischen Produkten hier in Venedig immer wieder an die Endzeitstimmung der 68er Jahre erinnert: May you live (in interesting times) überschrieb der Kurator Ralph Rugoff, Direktor der Londoner Hayward Gallery, die diesjährige Biennale – wobei das Leben in seiner Vergänglichkeit immer wiederkehrendes Thema ist. Bedrohlich schwingt das Eisentor von Shilpa Guptas Installation gegen die Wand im Hauptpavillon in den Giardini, zerstört und zermürbt langsam, aber ohrenbetäubend die Substanz der Wand.7SHILPA GUPTA, Untitled, 200, MS Mobile Gate with swings side to side and breaks the walls, 290 x 230 cm, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 1: Exhibition (Katalog Ausst.: 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, May You Live In Interesting Times). Venedig 2019, 398f. Grenzen werden gezogen statt geöffnet, wird den Besuchern eingebläut. Im nächsten Raum konstatiert Hito Steyerl This is the future: Im Rund der Bildschirme Visionen einer Superwaffe von Leonardo da Vinci8Vgl. PANIAGUA, LAURA LÓPEZ: Hito Steyerl, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 1 328f. – die Menschheit in ihrer ganzen (selbstzerstörerischen) Kraft. Wo das hinführt? Vielleicht nirgendwohin, mögen BesucherInnen sinnieren im Blick auf Nabuqis Kuh, die im Kreis läuft.9Nabuqi: Do real things happen in moments of rationality?, 2018. Electronic controller, spray-painted FRP cow model, flat car, stainless steel track, outdoor spherical lamp, artificial plant, foam stone, PVC column, inkjet cloth curtain, print on self-adhesive vinyl, dimensions variable. Vgl.: YINGHUA LU, CAROL: Nabuqi, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 1 304f. Eine „Zeitanalyse“ nimmt der Kurator vor, der zentrale Pavillon in den Giardini offenbart hinter dem Kunstnebel von Lara Favaretto „bewusst keinen Parcours, sondern lose Folgen von verdichteten Erlebnisräumen“10KÖLBL, ALOIS: Kunstbiennale. ‚Interessante‘ und existentielle Zeit. In: kunst und kirche 3/2019, 56-59, hier 56. , in die BesucherInnen eintauchen. In diesen Räumen eröffne der Kurator einfühlsam neue Blickwinkel, indem er auf die Fähigkeit der Kunst vertraue, komplexe Beziehungsgeflechte zu schaffen, wie Alois Kölbl beschreibt.11Vgl. Ebd.

Und tatsächlich geben die Arbeiten der auf der Biennale vertretenen KünstlerInnen reichlich Anlass zur dialogischen Begegnung: Genderfragen beispielsweise werden eindrücklich in Brasiliens Beitrag Swinguerra12DE BURCA, BENJAMIN / WAGNER, BÁRBARAF: Swinguerra, 2019, Film. Pavilion of Brazil, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2 30f. und Martine Gutierrez Fotografien13Vgl.: SARA O’KEEFE: Martine Gutierrez, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 1 256f. im Arsenale aufgerufen. Es wird insbesondere deutlich, wie sehr sich die aktuellen Herausforderungen und Fragen weltweit ähneln – vor allem in der Art, wie ihre Dringlichkeit wahrgenommen und das Ringen um Sprach- und Beziehungsfähigkeit dargestellt wird. Ob hier ein Brückenbau so einfach noch möglich ist? Nur in der Peripherie der alten Schiffswerft: Bei Building Bridges von Lorenzo Quinn14LORENZO QUINN: Building Bridges, WISDOM, HOPE, LOVE, HELP, FAITH, FRIENDSHIP, 2019, Expanded polystyrene and polyurea coating, 1120 x 2589 x 5654 cm, Arsenale. Venedig. Abbildung: https://www.lorenzoquinnbuildingbridges.com/building-bridges/, abgerufen am 02.12.2019. sind die alten gemeinsamen Werte von WISDOM, HOPE, LOVE, HELP, FAITH, FRIENDSHIP in ihrer naiven Monumentalität noch tragfähig – auch wenn die Gebetshaltung der riesenhaften Hände merkwürdig verkrampft erscheint. Ein Ringen um jene Vorstellungen von Zusammenhalt und Verständigung in gleißendem Weiß. Immerhin: Die Kommunikation bleibt bestehen, wenn sie denn auch nicht immer zum Dialog gelingt. Dies thematisiert der Isfahaner Künstler Ali Meer Azimi mit der Installation Always already to sink into lip sync in ebenfalls Beuysscher Manier: Sender und Empfänger – die sich zwar nicht verstehen, die Energien jedoch weiterhin fließen. Ein bezeichnend vorsichtiges Statement aus dem sonst braven Pavillon der Islamischen Republik Iran mit dem Titel of being and singing, wo aktuell die Menschen im konsequenten Protest die Sprachformen ihrer Emanzipation erproben.15Islamic Republic of Iran. Of being and singing, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2 84f.

„May you live…“, fragt man sich – ein Heilsorakel im Angesicht der Herausforderungen der modernen Lebenswelt? Exegetisch spräche man wohl eher von Gerichtsworten: Auf Anklagen der Missstände folgen Unheilsankündigungen als Visionen scheiternder Gesellschaften und zerstörter Umwelt16Vgl. KRISPENZ, JUTTA: Art. Prophetische Redeformen. In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (2006), 1-8. – und so landen BesucherInnen schließlich bei der Frage nach dem ganz persönlichen Ende. Am äußersten Rand von Dorsoduro werden Sie in der Kirche Santa Maria della Visitazione vom Tod empfangen, ebenfalls in Form eines schwarzen Quaders.

JAMES LEE BYARS: The Death of James Lee Byars, 1994, Blattgold/Plexiglas/Swarovski Kristalle, 602 x 560 x 485 cm, Vanhaerents Art Collection, Collateral Event of the 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Chiesa di Santa Maria della Visitazione, Venedig 2019. © Formentini Zanatta.

May you live – considering the death

Die Zeichenstudie des französisch-libanesischen Künstlers Zad Moultaka verdeutlicht die auratische Strahlkraft der Installation The Death of James Lee Byars des 1997 verstorbenen US-amerikanischen Meisters der Performance-Kunst. Inspiriert von dieser hat Moultaka die Soundinstallation Vocal Shadows für das Collateral Event in der Chiesa di Santa Maria della Visitazione geschaffen. Die Ausstrahlung des Quaders hat eine Wirkung der völligen Loslösung von Zeit und Raum, Ähnlichkeiten zur Sprache der montenegrinischen Quader sind unverkennbar.

ZAD MOULTAKA: Zeichnung zur Soundinstallation Vocal Shadows, 16 loudspeaker on pedestals, ste-reo audio in loop (audio cycles of 8 to 12 minutes), overall dimensions variable. In collaboration with ICRAM – Centre Pompidou, commissioned by the Vanhaerents Art Collection for the official Collateral Events program of the 58¬th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia (2019).

Um das Werk herum bis in den ganzen Raum hinein wird eine Atmosphäre geschaffen, die Betrachtende gänzlich hineinnimmt in den Raum des Kunstwerks. Diese Wirkung zeigt sich in der ungewöhnlichen Stille trotz zahlreicher BesucherInnen. Die Stimmung ist nicht anders als andächtig zu beschreiben.

JAMES LEE BYARS: The Death of James Lee Byars, 1994, Blattgold/Plexiglas/Swarovski Kristalle, 602 x 560 x 485 cm, Vanhaerents Art Collection, Collateral Event of the 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Chiesa di Santa Maria della Visitazione, Venedig 2019.

Das titeltragende Schwarz umhüllt die Box. Treten BesucherInnen in den Kirchraum ein, eröffnet ihnen sich das mit lose angehefteten Blattgoldblättern ausgekleidete Innere des Quaders. Die Ränder der Edelmetallblättchen bewegen sich durch die natürliche Luftzirkulation des Raumes oder punktuell durch Atem und Bewegung der BetrachterInnen. So entsteht eine der eigentlichen Schwere des Materials widersprechende Dynamik und Leichtigkeit. Eine solche Interaktion mit dem Werk ist möglich – willkürlich oder unwillkürlich – aber nicht notwendig.

JAMES LEE BYARS: The Death of James Lee Byars, 1994, Blattgold/Plexiglas/Swarovski Kristalle, 602 x 560 x 485 cm, Vanhaerents Art Collection, Collateral Event of the 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Chiesa di Santa Maria della Visitazione, Venedig 2019.

Die räumliche Wirkung der goldenen Farbe verändert sich je nach Standpunkt der BetrachterInnen. Von weitem wirkt der einheitlich strahlende Kasten vor allem als rechteckige Form, fast zweidimensional. Ein unauffälliger Scheinwerfer strahlt die Rückwand der Box vom Altarraum aus an. Die Reflexion erzeugt die Illusion einer tieferen Ebene, einer Art Lichttunnel am Ende der Box. Der Quader ist leicht versetzt erleuchtet, was zu einer Schattenbildung von einem Fünftel der rechten Seite führt, die nach unten hin schmaler verläuft. Das Gold als reflektierendes Material wirkt auf diese Weise trotz der Lichteinwirkung nicht blendend. Dennoch illuminiert sich der Raum über die Lichtquelle hinaus selbst. Im Gold findet das Auge keinen Halt, visuell verlieren BetrachterInnen sich, um sich an unterschiedlichen Stellen wieder zu finden.17Vgl.MICHELY, VIOLA: Tod als Performance? James Lee Byars oder es lebe die performative Kraft der Kunst, in: Kunstforum 152 (2000). URL: https://www.kunstforum.de/artikel/tod-als-performance/ (abgerufen am 03.12.2019). Das Gold in seiner Materialität, Farbigkeit und seinem Wert ist ein zentrales Element in Byars Werk:

„Gold, just as are diamonds, is an exalted material. It possesses such a degree of abstraction that it encounters you – if you use it artistically – on an already exalted Level.“18Zitat von James Lee Byars in: Vanhaerents Art Colletion (Hg.): The Death of James Lee Byars, Brüssel 2019, 7.

So preist der Künstler die immanente Erhabenheit seines bevorzugten Werkstoffes. In der Kombination mit einer Illuminierung des Materials sehen Kunsttheoretiker eine Referenz zur malerischen Auseinandersetzung mit Lichteinwirkung von Mark Rothko. Byars synthetisierte mit dem Licht verschiedene Konnotationen des Goldes in Ost und West. Die Auseinandersetzung des Künstlers mit Mythologie, Religion, Alchemie und Kulturgeschichte kulminiert in der Radikalität, mit der er die Installation einem einzigen Material und dessen übergreifenden Assoziationen von Bedeutsamkeit, Transzendenz, dem Göttlich-Jenseitigen widmet.19Vgl. ROLLIN, PIERRE-OLIVIER: What happened on July 1st 1994? In: Vanhaerents Art Colletion (Hg.): The Death of James Lee Byars, Brüssel 2019, 17-45, hier 24 und 36.

Die vor 25 Jahren in Brüssel hergestellte Installation war Bühne für die gleichnamige Performance des Künstlers, bei der er – im Angesicht seiner unheilbaren Krebserkrankung – das eigene Scheiden aus der Welt probte.20Vgl. Vanhaerents Art Collection: Press kit: The Death of James Lee Byars. La Biennale di Venezia – 58. Esposizione Internazionale d’Arte. Eventi Collaterali, 5. Heute markiert ein ebenfalls goldbedeckter Kasten, der stark an einen Sarg erinnert, die Stelle, an jener der ebenfalls in Gold gekleidete Künstler in der Mitte der Box auf dem Rücken lag. Fünf Swarovski-Kristalle in Diamanten-Form markieren Hände, Füße und Kopf Byars. Wenn auch nicht ihre Platzierung, lässt ihre Zahl doch den Bezug zu Stigmata zu.

JAMES LEE BYARS: The Death of James Lee Byars, 1994, Performance in der Galerie des Beaux-Arts, Brüssel.

Damit rührt der Künstler am Kern der christlichen Botschaft: Im Tod werden Leib und Seele getrennt (2 Kor 5,8), um in der Auferstehung wieder vereint zu werden. In James Lee Byars Tod scheint schon das göttliche Licht der Vergebung aller Sünden auf. Im direkten Davorstehen strahlend, beinahe blendend hell, ist der Mut zu erahnen, den ein Hinein- und Hindurchgehen im Bitten um die Vergebung erfordert, der größte Akt des Glaubens: Im Vertrauen die Verkündigung der Auferstehung anzunehmen – nach Christi Vorbild (Lk 23,46). Gleichzeitig ist dieses Wissen um die menschliche Sterblichkeit Appell, dass die Zeit begrenzt ist, das Leben zu verwirklichen:

„Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe […] der Staub auf die Erde zurückfällt als das, was er war, und der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat.“ (Koh 12,1.7)

Die Fragilität des Materials entspricht der des Menschen im Angesicht seiner Vergänglichkeit, seiner Sterblichkeit:21„Schwer zu sagen, wie der Künstler auf die wohl durch die extrem hohe Luftfeuchtigkeit in der von ihm so geliebten Lagunenstadt hervorgerufene optische Veränderung der Goldblättchen am Boden der Installation reagiert hätte. In jedem Fall zeigte sich für einen kurzen Zeitraum Fragilität und Vergänglichkeit des Kunst-Schönen, auch wenn inzwischen wieder alles restauriert und wiederhergestellt ist.“ (KÖLBL: Kunstbiennale. ‚Interessante‘ und existentielle Zeit 59.) Wenn der Atem der Betrachtenden das Blattgold bewegt, wird die Installation zum eigenen Requiem, es entsteht im Kirchenraum ein neuer Raum zwischen Irdisch und Himmlisch, eine Übergangspassage zwischen Diesseits und Jenseits scheint sich zu öffnen: BetrachterInnen können hineinreichen und sich-lehnen, niemals jedoch schon ganz hineintreten – zumindest nicht ohne das Werk zu zerstören. Auf diese Idee käme wohl aber auch trotz der niedrigen Höhe niemand – zu sehr entzogen, gleichzeitig verfügbar wie unverfügbar ist dieses Bühnenbild. Die Öffnung des Raumes ist gleichzeitig seine Grenze, eine fluide zwar, in gewissem Maße durchlässig, wobei die Durchlässigkeit einem Prozess des Ablösens, des Hinübergehens gleicht. Optisch entsteht für den Menschen, je länger er in das Gold blickt, eine magnetische Sogwirkung. Diese lässt BetrachterInnen jedoch mehr in innehaltender Schwebe zurück, als dass der Eindruck zum bedrohlichen Kippen würde. Dass BesucherInnen der Installation sich beinahe hypnotisch vom goldenen Innenraum der Box angezogen fühlen, mag auch an ihrer Platzierung unter der dunklen Holzdecke des Kirchenraumes von Santa Maria della Visitazione liegen. Ganz bewusst wurden die beiden Installationen auf der Längsachse der Kirche platziert. Als axis mundi verstanden, befinden sie sich damit zwischen Erde und Himmel, Materialität und Transzendenz. Die sich rhythmisch vom Schiff zum Altar ausdehnenden Arbeiten finden dank des Gesamtkonzepts einen spannungsvollen Rahmen in der Atmosphäre des relativ dunklen Renaissance-Baus. Der Altarraum wird somit zum Resonanzraum für ein Zwiegespräch, dem die Schlichtheit der Kirche genug Raum lässt: Nur der Hauptaltar und zwei Seitenaltäre tragen großformatige Ölgemälde, die Kreuzigungsdarstellung auf der linken Seite stellt den Totenkopf als Motiv sowohl skulptural als auch malerisch besonders betont dar. Das Flachdach und die einfachen hohen Wände fügen sich so mit den Linien von Byars Installation, dass der Raum des Kunstwerks formal wie inhaltlich mit dem der Kirche verschmilzt. Im Stil der Kassettenform an die Tradition byzantinischer Ikonen erinnernd, zeigt die Holzdecke neben Maria und Elisabeth Heilige und Propheten. Schauen BetrachterInnen nach oben, ergibt sich ein dramatischer Hell-Dunkel-Kontrast.22Vgl. Vanhaerents Art Collection: Press kit 9 und 11.

JAMES LEE BYARS: The Death of James Lee Byars and ZAD MOULTAKA: Vocal Shadows in Dialogue, Vanhaerents Art Collection, Collateral Event of the 58th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Chiesa di Santa Maria della Visitazione, Venedig 2019.

Die Performance von 1994, für jene die Installation geschaffen wurde, war ursprünglich mit Violinen-Spiel klanglich untermalt.23Vgl. ROLLIN: What happened on July 1st 1994? 26. Diese Idee führt der Dialog mit Moultaka weiter: 16 schwarze Lautsprecher bilden eine Verbindung zwischen dem Altarraum und Byars Werk, wie ein Spalier für einen entkörperlichten Geist. Die Toninstallation Vocal Shadows verstärkt den rituellen Charakter des Raumes als einer Art von sich öffnender Übergangspassage und vertieft eigenständig die Ästhetik von Nähe und Ferne, Greifbarkeit und Entzogenheit. Religions- und kulturübergreifend lässt der Künstler an schiitische Klagegesänge erinnernde Männerchoräle an- und abschwellen, irgendwo zwischen Hauchen und Gesang tauchen manchmal Frauenstimmen auf. Es sind meditative Klänge, die Grenzen durchlässig von menschlichen zu mit Instrumenten erzeugten Lauten. Von lauten Schlägen auf Rohre oder Pfeifen reicht die Skala von großer Lautstärke bis zur Stille. Zeitweise ist nur ein Windhauch wie ein Atmen zu erahnen, dann nehmen wieder dumpfe Töne einen unsichtbaren Faden auf, die an ein Echolot oder Sonar erinnern – findet hier eine Suche nach etwas ihren Anfang? Abgelöst durch klingende Töne eines Glockenspiels eröffnet sich die ganze Kraft von Byars Quader als Resonanzraum: Die auf den Altar gerichteten Lautsprecher schallen hier lauter zurück als an jedem anderen Ort in der Kirche. Von der 13 Minuten dauernden Toninstallation ist kein Anfang und Ende auszumachen, keine Wiederholungen in den Klängen zu erkennen, maximal erkennen BesucherInnen wiederkehrende Muster.24Vgl. The Death of James Lee Byars, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2 234. Hörende werden umhüllt, davongetragen, zwischen jenseitigem und diesseitigem Raum hin- und hergeworfen. Es entsteht das Gefühl, etwas fülle den Raum, obwohl er verlassen ist. Direkt im touristischen Alltag der venezianischen Lagune verortet, entzieht dieser Dialog von Byars und Moultaka BesucherInnen sofort und vollständig in eine kultur- und zeitübergreifende Heterotopie. Auch wenn die Toninstallation zu voller Lautstärke anschwillt, bleiben die Anwesenden ungewöhnlich still, scheinbar auf sich selbst zurückgeworfen. Trotz des Titels des Werks und dass BesucherInnen vor einer Art Sarg dem Tod gedenken, entsteht nicht die Stimmung eines Begräbnisses. Es ist mehr eine Idee, eine Berührung mit dem radikal anderen Jenseitigen. Es ist kaum zu erahnen, aber doch so präsent, dass mancher den Atem anhält – abgelöst durch das Hauchen eines anderen. Die reflektierende Wirkung der beiden Werke in diesem Umfeld bezieht sich nicht nur auf die audio-visuelle Ebene, sondern auch auf eine existentielle: Es ist die Erfahrung der Schönheit und des Werts des Vergänglichen. Von diesem mit Michel Foucault gesprochenen „ganz anderen Raum“ in das Treiben vor der Tür zurückgeworfen, hallen die Klänge und die Betroffenheit noch minutenlang nach, als ob eine Art geistiger Präsenz erhalten bliebe.25Vgl. FOUCAULT, MICHEL: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Essais (Reclam Bibliothek 1352), Leipzig 72002, 34-46.

Es ist dieselbe Art der Beziehung zwischen Werk und BetrachterIn, die mystische Ebene des Unverfügbaren und doch Präsenten, die auch bei Gagovićs Arbeiten entsteht, immer im Bezug zu menschlichen Mythen des Leben und Sterbens: Die Textzeilen von Vocal Shadows sind inspiriert vom altägyptischen Totenbuch.26Vgl. LEPSIUS, RICHARD (Hrsg.): Das Todtenbuch der Ägypter. Nach dem hieroglyphischen Papyrus in Turin. Georg Wigand, Leipzig 1842 (Digitalisat unter https://archive.org/stream/bub_gb_RQE2AQAAMAAJ#page/n5/mode/2up, abgerufen am 30. November 2019]) Im Dialog von Moultaka und Byars verliert der Tod zwar nicht seine Absolutheit, das Sterben jedoch seinen Schrecken. In der Zusammenstellung dieser Installation wird die nachhallende Performance Anlass zur Meditation über jene Ästhetik des Verschwindens in seiner existentiellen Bedeutung. Den vollkommenen Tod, den Byars inszeniert in seiner goldenen Sphäre mit der leeren Bahre, welche die fünf Diamanten wie Überreste trägt, birgt die Symbolik des Sich-Niederlegens und Wiederaufstehens der Performance im Münchner Lenbachhaus 1986 zu Ehren von Joseph Beuys.27Vgl. MICHELY: Tod als Performance? James Lee Byars oder es lebe die performative Kraft der Kunst 152. Es ist dasselbe Ideal und dieselbe Übertreibung, die in Santa Maria della Visitazione heute erfahrbar wird: Wie überraschend endgültig das Verschwinden, und wie überraschend schön der Tod sein kann – denn er bedeutet, ganz christlich gesprochen, nicht das Ende.

Der Sterbeprozess wird hier, ironischerweise auch materiell, zur wertvollen Erfahrung. Das Verschwinden der Kunst als Ware zugunsten der bloßen Präsenz – dem Gegenteil des Todes – konstatierte Byars schon mit seinen Goldpapiertalern für die Biennale 1993.28Vgl. Ebd. Was bleibt für die Lebenden, ist die Auseinandersetzung mit Byars „Ästhetik des Verschwindens“29Vgl. The Death of James Lee Byars, in: Biennale Arte 2019: May you live in interesting times. Bd. 2 234f., die Begegnung mit dem Tod – dem von Byars und perspektivisch der eigenen Sterblichkeit. In Kombination der Goldhaltigkeit und der Kastenform ist die Ikonen-Assoziation nicht weit, vor allem in Anknüpfung an die Reduktion in Form und Farbe eines Malewitsch, der sein Schwarzes Quadrat an die Stelle von Ikonen in russischen Haushalten platzierte. Fern jeder traditionellen künstlerischen Auseinandersetzung wird in abstrakter Herangehensweise eine religiöse Thematik so bearbeitet, dass sich in der Erfahrung völlig neue Anknüpfungspunkte für einen Dialog entwickeln.

Moultakas Soundinstallation funktioniert mit Byars Bühnenbild mindestens so gut wie Richard Strauss Also sprach Zarathustra (Op. 30) in Kubicks epischer Inszenierung des Anfangs aller Zeiten: Byars und Moultaka im Dialog als „natural companion[s]“30Vanhaerents Art Collection: Press kit 5. rufen unabhängig allen in der Biennale so stark thematisierten technischen Fortschritts der modernen Welt uralte Schöpfungsmythen auf – ein schlichtes, aber machtvolles Gesamtkunstwerk wirft in seiner konzentrierten Klarheit BesucherInnen zurück auf die existentiellen Fragen von Leben und Tod. Wie Gagović feststellt, muss sich die Kunst gegen die Technologie durchsetzen, um nicht durch Wissenschaft als neue Religion ersetzt zu werden31Vgl. Pavilion of Montenegro, Biennale Arte 2019, 58th International Art Exhibition: The Theatricality of Meaning. Conversation between Dobrila Denegri and Vesko Gagović, in: Handout brochure to Vesko Gagović: odyssey – odiseja – odissea, Venedig 2019. – genauso ist es Aufgabe der Theologie, sich in diesem Kontext der Rationalisierung zu behaupten, Ansprechpartner für jene existentiellen Fragen zu bleiben, die auf der Biennale in ihren schönsten und schmerzhaftesten Formen zum Tragen kommen. Erstere kann durchaus angemessener Rahmen für Fragen des Glaubens sein, wie Johannes Rauchenberger feststellt:

„Gerade Venedig und seine auf dem Meere gebaute betörende Schönheit führen bei jedem Besuch aufs Neue vor, dass es durchaus angebracht sein kann, in fremden Gewässern zu fischen: Venedig, die Kunst, die Pavillons gehören allen – warum nicht auch jenen, die Fragen des Glaubens dort suchen? Und was hindert diejenigen, die solches interessiert, sie auch dort zu finden?“32RAUCHENBERGER, JOHANNES: Gott hat kein Museum. No Museum has God. Religion in der Kunst des beginnenden XXI. Jahrhunderts. Religion in Art in the Early 21st Century (ikon. Bild + Theologie). Paderborn u. a. 2015, 22.

Kurator Rugloff stellte auf der diesjährigen Biennale das Narrativ einer sich ihrer Fragilität bewusstwerdenden Gesellschaft vor, die schmerzhaft den Ausbeutungszustand ihrer Lebensgrundlage erkennt und wie die Beziehungsgeflechte der Einzelnen zerklüften. In der Ansprache des Individuums aber steckt – ganz im Sinne prophetischer Rede – stets die Hoffnung auf Umkehr: Auf einen Dialog, die Herausforderung der Betrachtenden bleibt als letzte sinnstiftende Konstante. So kommt es, dass diese 58. Biennale trotz ihrer beharrlichen Reaktion auf schwierig-interessante Zeiten und schmerzhafte Realitäten BesucherInnen inspiriert statt bedrückt aufs Festland zurückkehren lässt.

Ebene 1

Sprechweisen der Natur in Skulpturen im Stadtraum

Aus dieses Weltbuchs A B C
So viel, so schön gemalt, so rein gezog’ne Lettern;
Daß ich, dadurch gerührt, den Inhalt dieser Schrift
Begierig wünschte zu verstehn.
Ich konnt’ es überhaupt auch alsbald sehn
Und, daß er von des grossen Schöpfers Wesen
Ganz deutlich handelte; ganz deutlich lesen.
Ein jedes Gräsgen war mit Linien geziert,
Ein jedes Blatt war vollgeschrieben:
Denn jedes Äderchen, durchs Licht illuminiert,
Stellt‘ einen Buchstab vor. Allein,
Was eigentlich die Worte sein,
Blieb mir noch unbekannt […]1 Ausschnitt nach BROCKES, BARTHOLD HEINRICH: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Erster Theil, nebst einem Anhang etlicher übersetzten Fabeln des Herrn de la Motte, Bern 1970, 77.

Das Blühmlein: Vergiß mein nicht:
Barthold Heinrich Brockes (1680–1747)

So beschreibt der deutsche Schriftsteller Barthold Heinrich Brockes während der Frühaufklärung seine Bemühungen, die Signaturen der Schöpfung zu entziffern. Fast 300 Jahre später versetzt Martin Boyce mit seinem Werk We are still and reflective den Betrachter2Die in diesem Text verwendeten maskulinen Bezeichnungen umfassen Personen beiderlei  Geschlechts. Diese Form wird ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwendet. in eben jene Rolle des Suchenden: Auf den Spuren von Sprechweisen der Natur eröffnet das Kunstwerk im Stadtraum Fragen des Wahrnehmens, der Sprache von Kunst und Natur, Mensch und Gott sowie nach einer sinnhaften Ordnung der Welt.

Martin Boyce: We are still and reflective (2007)

Für die Skulptur Projekte Münster im Jahr 2007 schuf der schottische Künstler Martin Boyce mit We are still and reflective eine großflächige Bodenplastik. Für den Menschen ist nicht vorhanden, was sich nicht zeigt – dem will der Bildhauer widersprechen: Es ist da, muss nur wahrgenommen werden. In diesem Sinne unterschreitet We are still and reflective die Horizontlinie. Die geformten Gussbetonplatten bedecken einen unscheinbaren Platz auf dem ehemaligen Zoogelände. 13 geometrische Formen bilden in ihrer Wiederholung ein Muster. Die einzelnen Platten ordnete der Künstler um die dort gewachsenen Bäume herum. So lässt er Kunst- und Naturformen aufeinandertreffen. An zwei Seiten geschlossen durch einen Zaun und eine Hecke, begrenzt den Raum des Kunstwerks nach oben nur der Himmel. Auf der Oberfläche wechseln Licht- und Schattenflächen je nach Stunde, Wetter und jahreszeitlicher Bewaldung der umgebenden Bäume in unterschiedlicher Intensität. Meist bilden die Baumkronen einen lichtdurchlässigen Rahmen aus Schatten an den Rändern der Grundfläche. Die naturgegebene Unregelmäßigkeit ihrer Konturen und ihre Beweglichkeit ergänzen das künstliche Rechteck unaufgeregt um die dynamische Vitalität der Natur. Dem sich Nähernden fällt das Kunstwerk als Plastik nicht auf, wenigstens eine minimale Erhebung wird erwartet. Der direkte Sichtkontakt offenbart die Struktur der ebenmäßig grauen Betonfläche: Die unterschiedliche Geometrie von parallel angeordneten schmalen Rechtecken, unregelmäßigen Drei-, Vier-, Fünf- und Sechsecken, zum Teil mit rechten Winkeln. Letztere werden in ihrer Wiederholung zum Muster und schaffen ein gewisses Gleichmaß im Gesamtbild. Die schlicht hellgrauen Bodenplatten bestehen aus Gussbeton. Gebrochen wird diese materiale Stetigkeit durch die in ausgewählte Fugen eingesetzten geraden Metallbänder. Das ursprünglich gold glänzende Messing bildet um die Kanten der geometrischen Figuren neue Formen, die stilisierte Buchstaben erzeugen. Die Großbuchstaben bilden die titelgebenden fünf englischen Worte „we are still and reflective“.

An dem vorbeiführenden Weg am Schlossgraben entlang begrenzen einzelne Bäume den Platz. An drei Stellen wird ihnen innerhalb der Bodenplastik bewusst Raum gelassen. Die Buchstaben sind in ihrer Anordnung auf den von der Stadt her kommenden Besucher an der schmalen Längsseite des Platzes ausgerichtet: Beginnt er seinen lesenden Gang an der geschlossenen oberen Ecke, sind die Buchstabengruppen von links nach rechts untereinander lesbar. Dass die einzelnen Buchstaben über ihre graphische Verfremdung hinaus seitlich oder kopfüber liegen, erschwert jedoch die Entzifferung. Die Nachricht „we are still and reflective“ ist gleichzeitig schwer zu verstehen und leicht zu übersehen:3Vgl. skulptur projekte münster 07/LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Hg.): skulptur projekte münster 07. Kurzführer. Text von FRANK FRANGENBERG, Köln 2007, 19. „Doch mit dem Wissen um den in den Boden eingelassenen Satz füllt sich der verlassene Ort mit Emotion und Sinn. Das tonlose Signal, das der Boden beständig sendet, buhlt nicht um unsere Aufmerksamkeit, es hat alle Zeit der Welt.“4Ebd. Schon der Titel gibt also vor, dass es ein Signal zu entschlüsseln gilt. Daher verlangt dieses Kunstwerk auch eine Beschäftigung mit Sprache per se. Spielerisch setzt Boyce sich mit linguistischen Erkenntnisebenen auseinander: Formen als Buchstaben zu erkennen, Buchstaben als Worte, Worte als Sätze.

Martin Boyce Studio, Glasgow (April 2007): Bronze Elements Location Plan – Working drawing. (LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster | Skulptur Projekte Archiv, Projekt Martin Boyce 2007, digitale Ablage)

Künstlerisch befasst sich Martin Boyce als international bedeutender Bildhauer mit dem urbanen Raum und seinen Spannungen. In der zeitgenössischen Stadtlandschaft pointiert er den Gegensatz von Konstruktion und Natur, Belebtem und Brache. Das Element der Bäume wird für We are still and reflective konstruktiver und dekorativer Grundstein. Zwischen Park- und Spielplatz schafft er in die ehemals städtische Leerstelle eine gleichzeitig nüchterne und meditative Fläche.5Vgl. WESTFÄLISCHER KUNSTVEREIN: Martin Boyce, entnommen am 09.01.2018: http://www.westfaelischer-kunstverein.de/ausstellungen/archiv/2008/martin-boyce/. Planvoll angelegt wie ein Garten ist seine Bodenarbeit. Für den Künstler selbst ist die Beschäftigung mit dem Garten als Motiv und Konzept eine Fortsetzung seines Interesses für öffentliche Plätze und Parks. Dabei liegt sein Blick auf dem wesentlichen Unterschied, dass ein Garten nicht zur Natur, sondern zur Architektur gehört. Ihn fasziniert das breite Spektrum des Gartens vom Prominieren in der Öffentlichkeit bis hin zu Einkehr und Besinnlichkeit. Letzterer Aspekt ist es, den Boyce in We are still and reflective aufgreift. Verlässt man die Münsteraner Innenstadt über den Ring der Promenade, nimmt sich die Natur hier zunehmend Raum. An der Schlossgräfte entlang gehend, lässt Boyce den Wahrnehmenden nochmals auf Beton als städtisches Baumaterial treffen. Doch der künstliche Stein wird scheinbar schon wieder von der Natur vereinnahmt. Hört sie dort auf oder fängt sie wieder an? Was wächst hier in was? Der Prozess schwankt zwischen Überwuchern und Ineinander-Wachsen: „Die Natur lässt sich eben nicht aufhalten, nicht einmal in ihrer am stärksten kontrollierten, rationalen Form.“6 GANZENBERG, CHRISTIAN: Ein Gespräch zwischen Martin Boyce und Christian Ganzenberg, in: DERS./WIEHAGER, RENATE: Martin Boyce. Hg. v. Daimler Art Collection/Daimler AG, Köln 2012, 59–67, hier 66. An der Grenze zur Natur werden die umgebenden Ausläufer des Schlossgartens zum machtvollen Raum, zu dem die reduzierte materiale Präsenz der Bodenplastik in Beziehung tritt. Es entsteht ein stiller Ort der Suche nach Harmonie. Hier wird der Wahrnehmende eingefasst durch die Worte von Boyce, geboren aus der Vorlage kubistischer Baum-Plastiken, und eben jenen in ihrer natürlichen Urform. Umgeben von den natürlichen Bäumen des auslaufenden Schlossgartens eröffnet Boyce die künstlerische Spannung zwischen der Schwere des Materials Beton und der Fragilität der Muster und ihrer Ausarbeitung. Was den Künstler reizt, ist „der Balanceakt zwischen einer klarlinigen Industrieästhetik und einem stärker emotionalen Ausdruck. Die Betonbäume verbinden die Poesie von Naturdarstellungen mit Ideen der damaligen Architektur.“7Ebd., 60. Das sagt Boyce zu seiner Inspiration durch die Fotographien von vier kubistischen Betonbäumen, die 1925 von den Zwillingen Jan und Joël Martel für die Pariser Freilichtausstellung L’Exposition des Arts Décoratifs et Industriels Modernes geschaffen wurden.8Jan und Joël Martel (1896–1966) begannen in den frühen 20er Jahren zunehmend, natürlich gegebene Modelle unter Einfluss kubistischer Konzepte in geometrisierte Maße aufzuschlüsseln. 1925 gestalteten sie während der Exposition Nationale für den vom Architekten ROBERTMALLET-STEVENS designten Garten eine Baumgruppe, die „arbres schématiques“. An diesen wird deutlich, wie die Künstlerzwillinge mit der Zeit alle Details reduzierten, um ihre Plastiken als fließende Formen zu modellieren. (Vgl. DUNCAN, ALISTAIR: Art deco sculpture, London 2016, 38f.) Abbildung: https://3.bp.blogspot.com/-AzIe7OrTCio/UrMwMADVxlI/AAAAAAABP30/hvdqL1pT-Z0/s1600/Les+%20arbres+cubiques+Mallet-Stevens.jpg  Sie wurden zu einem Leitmotiv von Boyce Arbeit. Aus ihren Silhouetten entstand ein Modulsystem, das der Künstler für verschiedenste Zwecke verwendet. Mehr als eine Handschrift wird das Wiederholen verwandter Formen als Arbeitspraxis gleichzeitig Grundprinzip des Inhalts. „Ein verästeltes poetisches Formsystem“ nennt Christian Ganzenberger diese Ausdrucksweise von Boyce.9Vgl. GANZENBERG: Gespräch, 59f. Der Künstler selbst erzählt, dass dieses repetitive Linienmuster jenes grafischen Waldes ihm Buchstaben, Wörter und Formen zuflüstere. Die arbres schématiques haben Boyce zu seinem Schriftbild geführt, das für die Skulptur Projekte zwischen Beton und natürlichen Bäumen Gestalt annimmt.10Ebd., 61. Auf jene Sammlung des Formrepertoires von Buchstaben greift er für die Münsteraner Plastik zurück und verarbeitet sie in neuem Kontext. Es ist diese dem Künstler gänzlich zu eigen gewordene Typografie, die einen eingeweihten Betrachter benötigt: „Eine Kunst der Verweise und Zitate“11GAMERT, CHRISTIAN: Installationen von Martin Boyce. Kunst für Eingeweihte, eingestellt am 26.04.2015, entnommen am 30.08.2019: https://www.deutschlandfunk.de/installationen-von-martin-boyce-kunst-fuer-eingeweihte.691.de.html?dram:article_id=318219., die nur dem Boyce-Musikalischen eingängig wird.

Der Betrachter von We are still and reflective erbringt seine Wahrnehmungsleistung nicht unwillkürlich. Die Wahrnehmung selbst wird zur Kunst erhoben, da nicht auf den ersten Blick erkennbar wird, dass eine Entzifferungsarbeit nötig ist. Boyce Sprache verlangt einen aktiv Suchenden, ein sich dem Verstehen bewusst öffnendes Gegenüber. Im Sinne des linguistic turn hinterfragt Boyce auf graphische Weise das Medium Sprache in seiner Transparenz. Sie wird in ihrer dinghaften Eigenschaft, der Schrift, zum Dreh- und Angelpunkt seiner Auseinandersetzung. Zentral ist dabei der fast epiphanische Moment seiner eigenen Erkenntnis: „Als aus dem Muster Buchstaben und Wörter hervortraten, begannen die Bäume zu sprechen.“12GANZENBERG: Gespräch, 65. In logischer Konsequenz dieses Prinzips behandelt der Künstler Sprache in seinen Arbeiten fragmentarisch. In den Konturen der arbres schématiques entdeckt er zuerst die Initialen des Architekten Robert Mallet-Stevens, danach begibt er sich auf die Suche nach dem ganzen Alphabet. Es erstaunt ihn, dass er in den geometrischen Umrissen der kubistischen Plastiken für jeden Buchstaben eine entsprechende Darstellungsmöglichkeit entdeckt. Obwohl er diese Methode als planlos empfindet, wird in jenem systematischen Übersetzungsvorgang, der Zeichen und Bedeutung zusammenbringt, die physikotheologische Idee eines schöpferischen Akts ersichtlich: Die Suche nach einer eingelassenen sinnhaften Ordnung in der Welt.13Vgl. LOTZ, ANTONIA im Gespräch mit Martin Boyce, in: skultpur projekte münster 07/Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster/Kunstakademie Münster (Hg.): skulptur projekte münster 07, Vorspann. Konzept und Redaktion: AMANSHAUSER, HILDEGUND/FRANZEN, BRIGITTE, Köln 2007, 32–43, hier 39. Die etablierte Zeichenordnung der Semiotik folgt dem einfachen Gesetz, dass der Blick durch die gegenwärtige Materialität des Zeichens in Distanz zur Welt hindurch zur abwesenden Schicht der Bedeutung gelangt. „Wilde Semiose“ nennt Aleida Assmann den potentiell subversiven Einsturz dieses Fundaments: Indem die Materialität des Zeichens adaptiert und die Präsenz der Welt wiederhergestellt wird, können über bestehenden Sinn hinaus neue Assoziationen und Bedeutungen entstehen. Damit korrespondiert auch ihre Unterscheidung in den langen und den schnellen Blick, das Lesen und das Starren. Dem Modus des Lesens, mit dem schnellen, die Oberfläche durchdringenden Blick, wird der faszinierte lange Blick gegenübergestellt, der an der Dichte der Oberfläche hängen bleibt. Aus dem Spiel mit diesen Modi menschlichen Deutungsverhaltens führt Boyces Kunstwerk den Betrachter zu einem kontemplativen Blick. Zwischen dem Lesen als referentiellen Verfahren und dem Starren als medialen Akt eröffnet sich eine unerschöpfliche Vieldeutigkeit, die mit einer Unübersetzbarkeit verbunden ist. Schon an der Übersetzung des Titels scheitert der Betrachter. Doch dieses Scheitern hat Methode: Die Signaturen göttlicher Offenbarung in der Natur sind nicht auszulesen. Es bedarf einer „stummen Gegensprache“ – mit dem Starren muss die Einsicht in die Unlesbarkeit der Welt einhergehen. Der Umgang mit Zeichen schwankt bei Boyce so sehr zwischen der Sprache der Menschen und der Sprache der Dinge, dass die Grenzen zwischen historischer Suche nach dem Code in der göttlichen Schöpfung für den menschlichen Adressaten und der modernen Entdeckung der Materie, für einen unbeteiligten Betrachter zur Bearbeitung freigegeben, verschwimmen. Paradox ist die übrig bleibende Sprache, in der transzendenter Sinn und innerweltliche Ordnung ebenso unvereinbar wie unverzichtbar nebeneinander stehen.14Vgl. ASSMANN, ALEIDA: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: GUMBRECHT, HANS ULRICH/PFEIFFER, KARL LUDWIG (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, 237–251, hier 238–249. Boyce bezieht den Betrachter mit seinen Kunstwerken jenseits von Zeit und Raum als Orte der Ruhe in jene Sinnsuche mit ein und verspricht: „Wer Zugang findet zu diesem natürlich andauernden Zustand, kann in der Zeitschleife verharren.“15GANZENBERG: Gespräch, 63. So beinhaltet Boyce Bodenarbeit Poesie in erstarrtem Charakter. Mitten in der Natur hält er den Verfallsprozess der Welt und ihrer Zeit an. Ein utopisches Vorhaben, den augenblicklichen Zustand zu konservieren.16Vgl. ebd., 64. Der Künstler erzählt, dass er als Jugendlicher unter anderem in der Bibliothek lernte, „jene Dinge zu erkennen, die mich wirklich ansprachen, die auf eine Welt jenseits meiner eigenen verwiesen und doch Teil meines Alltags waren.“17Ebd., 65. Aus jener Erfahrung erwächst We are still and reflective. Die Dekonstruktion des Natürlichen soll als Konzentration des Blicks auf das Wesentliche wirken. So reduziert und abstrahiert Boyce Denkweise ist, bleibt er doch letztlich bei solch Konkretem wie dem sinnbehafteten Wort hängen. Die Sprache der Dinge ist bei Boyce Schriftsprache und diese wiederum verlangt Bereitschaft zu entziffern, zu lesen und zu verstehen: „Es genügt also nicht, die Dinge der Natur einfach zu beschreiben, vielmehr muß der Moment, das Ereignis der Wahrnehmung mit dargestellt werden.“18WAGNER-EGELHAAF, MARTINA: Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten. Zur Medialität der literarischen Wahrnehmung am Beispiel Barthold Hinrich Brockes‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), 183–216, hier 187. So wie Brockes mit der Medialität des Blicks experimentiert, inszeniert auch Boyce die Wahrnehmung: Das Phänomen des Zusammenfügens einzelner Elemente zu einem großen Ganzen als Erkenntnisprozess, in dem man nur aus unmenschlicher Distanz, der Vogelperspektive, den Gesamteindruck des Werks aufnehmen kann.19Vgl. ebd., 195f.

Boyce schafft mit seinen Werken „imaginäre Landschaften“. Er füllt das inhärente es war einmal verlassener Orte durch fiktive Texte mit Emotion.20Vgl. LOTZ: Gespräch, 35. Die „Verlassenheit ist deshalb interessant, weil sie ein Zwischenstadium darstellt: nach der ihr vorausgehenden ‚Vollständigkeit‘ und vor dem ihr folgenden gänzlichen Verschwinden oder der Wiederherstellung der Vollständigkeit.“21 LOTZ: Gespräch, 36. Diese Phase der Verlassenheit nutzt Boyce, um einen Moment des Einhaltens zwischen Himmel und Erde, in der Spannung zwischen Natur und Stadt, zu ermöglichen. So erhöht sich in der eingewachsenen Form der Bodenarbeit – mit Unkraut, verschmutzten Steinen und unpolierten Messingeinsätzen – geradezu die Lesbarkeit des Kunstwerks. Das Kunstwerk tritt in einen „ehemaligen“ Ort. Ehemals war diese städtische Leerstelle mit dem Zoo von blühendem Leben gefüllt. Die Bewegung der Lebewesen ist vorüber, die Bodenarbeit ersetzt sie mit Statik: Eckigen Buchstaben – begradigt, wo Rundungen waren. Beweglichkeit bietet die Plastik an sich nicht mit ihren graphischen Elementen, und doch: Der Platz bewegt den Betrachter, macht ihn zum Bewegten in seinem Wahrnehmungsgeschehen und Erkenntnisprozess an einem Ort, wo vormals jede Bewegung vergangen war. Der Beton ist hineingegossen in einen figürlichen Rahmen, wie ein unnatürlicher Fußboden auf der Erde. Das Kunstwerk fällt gerade da aus diesem Rahmen, wo es auf die Natur trifft: Den Bäumen wird ein sternförmiger eigener Platz eingeräumt – so nimmt der Ort sich seinen Raum in Boyce Platz. Die Natur füllt eine Leerstelle, bildet mit den Baumstämmen ein Hindernis für den Umhergehenden, wo eigentlich kein Raum in der vollkommenen Geometrie des künstlerisch-künstlich vorgegebenen Rechtecks ist. Das Muster der geometrischen Platten, die an Glasscherben erinnern, ist regelmäßig, obwohl die Platten selbst in ihren irritierenden Formen als variierende Vielecke dem Betrachter Unregelmäßigkeit suggerieren. Streng methodisch-rational wählt Boyce für seinen Platz die mathematische Struktur einer aperiodischen Parkettierung, innerhalb derer sich dieselbe Anordnung der Steinkacheln ausschnittweise wiederholt. Die regelmäßige Fläche wird so zyklisch mit unregelmäßigen Formen gefüllt, dass sich die scherbenhaften Leerstellen für die natürlichen Gegebenheiten logisch darin einfügen. Aus der Vogelperspektive erst ergibt sich die vollkommene Harmonie der eingelassenen Ordnung. Es ist dasselbe Ordnungsprinzip der Schöpfung, das dem Verständnis des Menschen auf den ersten Blick entzogen bleibt.

Mit jener Wiederholung des variierenden Grundmusters füllt Boyce das Kunstwerk und macht auf diese Weise Sprache in graphischer Form zum Ornament. Es füllt zeichenhaft den Raum der Bodenarbeit We are still and reflective als Form und Sinn. Sein Ornament erhält somit bedeutungstragende Funktion. Schon im Alten Orient entspringt das Ornamentale aus natürlichen Vorbildern und wird durch den Menschen in geometrischer Form weiter verwendet und in Form gebracht. Boyce entnimmt die Ornamentik Bäumen, indem er sein Ornament aus ihrer Adaption in den arbres schématiques der Brüder Martel entwickelt. Die Natürlichkeit des Ornaments liegt also in seinem Ursprung. Es entspringt aus gegebenen Formen innerhalb der Schöpfung und ist somit eine Form des Ausdrucks von Natur. Boyce spielt mit den Polen von Künstlich und Natürlich in seiner Sprach-Form. Das Ornament wird zum gestaltenden Element – die geometrischen Kacheln sind gleichzeitig Rahmen, Gliederung und Füllung. Die sich wiederholenden Feldformen erzeugen ein Muster, das sich dem umher wandelnden, Entschlüsselung und Regelmäßigkeit suchenden Betrachter jedoch immer wieder entzieht. Auf der Betonfläche als Ornament des natürlichen Bodens eröffnen die Messingstäbe der Buchstaben wiederum eine neue ornamentale Ebene. Vielschichtig muss die Wahrnehmung also sein und jederzeit bereit, eine Metaebene einzubeziehen.22 Mit der Verbindung von Ornamentik und Natur hat sich Boyce bereits 2010 für die KölnSkulptur #6 (2011–2013) im Rahmen seiner Arbeit Warm Dry Stone and Palm Leaves beschäftigt. Auch hier verwendet er die kubistischen Bäume der Brüder Martel als Quelle seines Motivkanons. Das Grundmotiv hat Boyce für den Kölner Skulpturenpark in die Oberfläche von drei Bankelementen schneiden lassen. Diese Perforierung bildet ein Ornament, das in Kombination mit dem Gartenschlauch als Paravent mit den Grundelementen eines Parks in die Vertikale gebracht wird. (Vgl. Teilnehmende Künstler der KölnSkulptur #6 (2011–2013): Martin Boyce, entnommen am 13.01.2018: http://www.skulpturenparkkoeln.de/de/ausstellungkoelnskulptur/koelnskulptur-6/19/197.html? ausstellungsview=1. Das Ornament ist demnach ein wesentliches Charakteristikum von Boyce Bodenarbeit. Es definiert die Räumlichkeit der Plastik durch sein immanentes Signal, dessen Entzifferung den Betrachter über den Platz leitet. Während der durch die Ornamentik geführten Bewegung eröffnet sich dem Rezipienten an unterschiedlichen Punkten eine Metaebene: Wenn der natürliche Boden in Form von Unkraut in die Sphäre des künstlich geschaffenen Bodens eintritt. Wenn das Laub den Platz bedeckt und auf diese Weise die Natur ihr eigenes Muster zeichnet. Wenn die Sonne vom Messing reflektiert wird und die Botschaft auch optisch aus dem Boden heraussteigt. Dann wird der Betrachter vom Wahrnehmenden zum Teilnehmenden: Er ist gefordert, sich über die ornamentale Eigenschaft von Sprache auf die Suche nach Inhalt jenseits des Dekorativen zu machen. Als Schule der Wahrnehmung führt Boyce mithilfe seiner Ornamentik den Betrachter als Sehenden, Lesenden und Verstehenden in die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Übersetzungsarbeit ein.

„Poetical investigation“ betitelt eine Galerie die streng methodische Arbeitsweise von Martin Boyce. Er erforscht die Knoten- und Schnittpunkte zwischen Kunst, Architektur, Design und Natur.23 Vgl. TANYA BONAKDAR GALLERY: Martin Boyce Biography, entnommen am 21.01.2018: http://www.tanyabonakdargallery.com/artists/martin-boyce/series-works_3/17. Tatsächlich ist die Methodik der Dreh- und Angelpunkt: We are still and reflective widmet sich der künstlerischen Abstraktion der Natur in Kombination mit der Untersuchung von Sprache. Die Entstehungsgeschichte der Formsprache des Künstlers ist dabei von entscheidender Bedeutung: Sie ist das Handwerkszeug seiner künstlerisch-investigativen Arbeit. Wenn in seinem Erkenntnismoment aus dem graphischen Wald Buchstaben auftauchen, macht ihn die Natur selbst, beziehungsweise ihre gegebenen Formen sprachfähig, versetzt ihn überhaupt erst in die Lage, eine Aussage zu treffen.24 Vgl. BEAVEN, KIRSTIE: Tate Debate: How much of the story behind a work do you need (or want) to know? Eingestellt am 8.12.2011, entnommen am 28.03.2018: http://www.tate.org.uk/context-comment/blogs/tate-debate-how-much-story-behind-work-do-you-need-or-want-know, Minute 1:46–2:10. Er wählt diese Formen als plastische Übersetzungen von Natur und macht sie zu seiner „gleichsam grammatikalische[n] Basis“, stellt RENATE WIEHAGER fest und erkennt damit, dass Boyce eher das wissenschaftlich-reflektierte Bewusstsein von Sprache interessiert als das poetische Gespür für den Inhalt derselben. Es ist diese explizite, dem Kunstwerk eigene – geradezu eine „Geheimsprache“, die Boyce zur Meisterschaft bringt. Das führte 2012 zu der Posse, dass Besucher der Lokalzeitung gestohlene Messingstäbe meldeten, ein großer Artikel erschien – der dank einem Plan der Besitzer und dem Einsatz eines Besens wieder revidiert werden musste. Folgendes Fazit wurde aus dem Missverständnis gezogen:

Vielleicht ist es gerade das Verborgene, was den Genuss- und Erkenntniswert dieser Arbeit ausmacht: Oder um es mit dem Zen-Meister Thich Nhat Hanh […] zu sagen: ‚As I carefully sweep the ground of enlightenment. A tree of understanding springs out from the earth‘ (Während ich mit Sorgfalt den Boden der Erleuchtung fege, entspringt der Erde ein Baum des Verständnis).25KOCK, GERHARD: Schrift gestohlen. Metallstäbe aus der Bodenskulptur von Martin Boyce verschwunden, eingestellt am 10.10.2012, entnommen am 20.01.2018: http://www.wn.de/Muenster/Kultur/2012/10/Schrift-gestohlen-Metallstaebe-aus-der-Boden-Skulptur-von-Martin-Boyce-verschwunden.

Dies ist ein eindrucksvolles Zeugnis des Scheiterns im Übersetzungsprozess. Man darf von Glück sprechen, dass so etwas möglich bleibt und die Lesbarkeit nicht vorgeschrieben wird. Denn durch Boyce Sprachweise entsteht hier im Besonderen die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns aus dem Kunstwerk selbst – es werden Fragen aufgeworfen zum Verhältnis von Mensch und Stadt, Stadt und Natur, Natur und Gott. Die ureigene Semiotik, die We are still and reflective mit seinen in unterschiedlichen Winkeln angeordneten Buchstaben aufweist, fügt Botschaft, Natur und Werk in ein organisches System. Das Kunstwerk führt mit seiner poetischen Strategie den Betrachter hinaus aus den städtischen Räumlichkeitsverhältnissen: Ebenso wie die Natur von dem Beton der Stadt begrenzt wird, begrenzen die Bäume die Plastik. Bereitwillig räumt Boyce ihnen sogar einen sternförmigen Platz im Inneren ein. Er öffnet den begrenzten Raum des Menschen im Rahmen der Natur gen Himmel. Er erdet gleichermaßen den Blick, wie er ihn erhöht. Diese Dynamik bleibt stets umfangen von dem immanenten Signal: Der Titel „We are still and reflective“ spielt mit der Doppeldeutigkeit der einzelnen Worte. Diese führt im Falle von „still“ („ruhig“ oder „noch“) und „reflective“ („spiegelnd“ oder „nachdenklich“) zu einem Übersetzungsproblem: „We are still“ im Sinne von „wir sind immer noch (da, existieren)“ bedeutet etwas grundsätzlich anderes als „wir werden ruhig“, genauso im Unterschied von „wir sind nachdenklich“ zu „wir sind (denken) reflektiert“. Der Zusatz „like stars and broken glass” steht in Klammern und bietet als Ergänzung auf einem zugehörigen Schild keinen Hinweis auf eine eindeutige Klärung des Inhalts dieses Verses. Sicher ist nur, dass der Künstler ihn bedeutungstragend designt hat. Um welche konkrete Bedeutung es sich handelt, bleibt verborgen. Vielmehr geht es um die Erkenntnisstufen und wie der Betrachter sich dem immanenten Signal nähern kann. Dies ist im Übrigen hier wörtlich zu nehmen: Die für den Menschen natürliche Haltung des Gehens muss als Bewegung künstlich unterbrochen werden, um auf der Suche nach dem „Mehr“ innezuhalten. So wird der Wahrnehmende auf einen tatsächlichen Erkenntnisweg geführt. Für diesen geht Boyce davon aus, dass alles, was ist, sprachlich verfasst ist. Indem der Betrachter das Werk als Wahrnehmender und Teilnehmender mit seiner Erkenntnis vollendet, macht das Kunstwerk ihn in einer wechselseitigen Dynamik sprachfähig: Durch die unendlichen neuen Kombinationsmöglichkeiten des geometrischen Vokabulars ohne den Zwang der Neuschöpfung lässt Boyce die menschliche Sprache über ihre Begrenztheit hinauswachsen.26 Vgl. GAMPERT: Installationen. Im Sinne von Johann Georg Hamanns Aesthetica in nuce: Boyce verbindet mit seiner Botschaft „We are still and reflective“ Poesie als sprachliches Bildschaffen mit künstlerischem Schaffen. Wie in der Schöpfung alles seine Bedeutung hat, sind Naturdinge auch Bilder, also eine Sprache. Diese setzt sich mit der Natur auseinander, es entsteht ein Schöpfungszusammenhang als Sprachzusammenhang: „Rede, dass ich dich sehe!“ Der Poet, der das Bewusstsein der Sprache hat, wird zum Übersetzer. Die Natur wird ansprechbar. Im Entzifferungsprozess der Schöpfung eröffnet sich dem Wahrnehmenden die Möglichkeit der Teilhabe am Dargestellten.27Vgl. dazu HAMANN, JOHANN GEORG: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce (1759/1762). Hg. v. JØRGENSEN, SVEN-Aage, Stuttgart 1983.

Physikotheologische Perspektiven

Das Signal von We are still and reflective eröffnet sich jedoch nur dem, der auch hinsehen will. Nur für den, der sich darauf einlässt, fügen sich aus der scheinbaren Verlassenheit des Platzes Metallstäbe zu Buchstaben und diese zu Worten und diese zu einer Botschaft zusammen. Schon bevor der Betrachter die Gewissheit einer immanenten Botschaft hat, wird von ihm also das Vertrauen, der Glaube an ihre Existenz verlangt. So verhält es sich mit Entzifferungsprozessen im Allgemeinen wie mit denen der Physikotheologen, die aus der Natur selbst lesen.

Detailansicht von Martin Boyce: We are still and reflective (like stars and broken glass), Bodenrelief, skulptur projekte münster 07, Bodeninstallation aus Gussbetonplatten und Messing, 32,38 x 14,38 m, Münster.

Zuletzt bleibt also die physikotheologische Frage, ob die Natur zu Erkenntnissen im Hinblick auf Gott führen, ob von der Schöpfung auf den Schöpfer geschlossen werden kann. Induktiv und empirisch gehen die Physikotheologen der Geschichte auf der Suche nach Antworten vor, sie argumentieren aus der akribischen Beobachtung der Natur heraus. Denn seit dem 19. Jahrhundert verlieren die natürlichen Lebensräume den Charakter der Wildnis. Diese landschaftliche Veränderung der Lebenswelt zeigt auf, was Max Weber mit „Entzauberung als Grundsignatur der Moderne“ beschreibt. Die Auffassung des Menschen von sich selbst und seinem Verhältnis zur Natur veränderte sich nachhaltig: Forscher wie Galilei und Newton sorgten mit ihren Erkenntnissen dafür, dass Gott als Schöpfer gewissermaßen in den Ruhestand versetzt wurde. Die Welt folgt den Gesetzen ihrer eingelassenen Ordnung. Dieser Gedanke einer Ordnung des Universums, Gottes als Uhrmacher, begeisterte in der Physikotheologie der Aufklärer. Charles Darwins Beschreibung eines Ausflugs in den brasilianischen Urwald ist Zeugnis, dass trotz der wissenschaftlich-technischen Entzauberung der Natur, ihr unmittelbares Erleben eine ästhetische Aufwertung erfuhr. Landschaftsmalerei und literarische Naturschilderungen des 19. Jahrhunderts spiegeln diesen Trend ebenfalls wieder: Die besondere Erfahrung der Natur und ihre Nähe zur religiösen Erfahrung – Gott in der Natur begegnen. Was die naturwissenschaftliche Perspektive ausblendet, ist die transzendente Dimension der Wirklichkeit, die in der ästhetischen Naturerfahrung sichtbar wird. Jener Entzauberung setzt Martin Boyce als gegenläufigen Prozess eine Verzauberung entgegen: Er impliziert Symbolik und Inhalt in den natürlichen Lebensraum und versetzt damit den Betrachter in die Lage der Physiker der Moderne wie Einstein und Hawing, sich „still and reflective“ mit den letzten großen Fragen zu beschäftigen. Dies zollt der Transformation Rechnung, die das traditionelle Christentum hin zu einer Frömmigkeit erlebt, die Transzendenz über die kirchliche Praxis hinaus in der Weltbegegnung erfährt und artikuliert.28Vgl. LAUSTER, JÖRG: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. 4., durchges. Aufl., München 2016, 556–572.

Barthold Heinrich Brockes gründete die Hamburger Literartradition des „Buchs der Natur“. Seine Sammlung „Irdisches Vergnügen in Gott“ prägte die Topoi von Gottes Wortgewalt innerhalb der Natur. Seine Naturfrömmigkeit ging von der Lesbarkeit der Welt aus, ohne doktrinär das Buch der Schrift und die Kirche vom Offenbarungsgeschehen auszuschließen. Brockes Weltbuchmetapher hält ihn in der aufklärerischen Tradition von Empirismus und Sensualismus dazu an, geradezu kleinlich die Botschaften zu sammeln und lesen, die in der Natur an den Menschen verteilt sind.29Vgl. BLUMENBERG,HANS: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981., 180–182. Der Schriftsteller öffnet den formalen Garten der Poesie zur Landschaft hin und versucht darin, das Verhältnis von Kunst und Natur neu zu bestimmen. So wurde für ihn der Garten zum Sinnbild physikotheologischer Poesie. Dort verbinden sich Kunst und Natur zur vollkommenen Schönheit.30Vgl. PETERS, GÜNTER: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brockes, Goethe und Gautier, München 1993, 44. Es ist der „Ort andächtiger Naturbetrachtung, an dem die Seele über die engen Interessen bürgerlicher Existenz hinausgeführt wird, ohne den Halt darin zu verlieren. […] Seine Dichtung folgt einer Ethik der Kontemplation, deren naturästhetische, künstlerische und wissenschaftliche Komponenten in einer religiösen Aufmerksamkeit für die Schöpfung gründen.“31Ebd., 49. Diese Ethik der Kontemplation ist als Grundtenor auch bei We are still and reflective wahrnehmbar. Das tonlose Signal, das Boyce seinem Kunstwerk eingibt, zeigt wie auch Poesie zum Garten werden kann:

[…] ein Ort, wo der »Fleiß« aufmerksam forschender Beschreibung, der »Nutz« moralisch-religiöser Erbauung und die »Lust« genußvoller Repräsentation des Schönen sich stets »verschwistert« finden. Die Poesie des Gartens ist dazu geschaffen, die Sinne für die Schönheit der Natur zu erschließen, so daß Allmacht, Weisheit und Güte des Schöpfers darin erkannt werden. Sie ist der Lustort schlechthin, Ort des »sinnlichen Gottesdienstes«.32Ebd., 44.

Von einer ästhetischen Verklärung der Natur in diesem Zusammenhang ist für Hamann abzusehen: Wäre die Natur ein Buch, dessen Buchstaben, Wörter und Sprache wir kennen, reichte das allein noch nicht aus, um das Buch zu verstehen und darüber zu urteilen. Nach Hamann gehört mehr als Physik dazu, die Natur auszulegen. Die Physik ist nur das ABC für die Natur als Zeitgleichung einer unbekannten Größe. Die Bedeutung derselben für den Menschen kann nicht aus wissenschaftlichen Erklärungen errechnet werden. Sie muss ebenso wie die biblische Urgeschichte erzählt werden. Lediglich im Licht dieser unbekannten Größe kann die Natur wahrhaft verstanden werden. Naturwissenschaftlich Erklärbares auslegend zu verstehen, ist somit nur durch das Medium der Erzählung möglich.33Vgl. BAYER, OSWALD: Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 254. In diesem Sinne erzählt auch Boyce: Schon die Abstraktion als Methode verlangt, sich von ästhetischer Verklärung der Natur oder gar naiver Naturfrömmigkeit zu lösen.

Das Bild vom „Buch der Natur“ wird zu einer Tradition im christlichen Denken der folgenden Jahrhunderte. Parallel zur Heiligen Schrift wird die Natur als Werkzeug göttlicher Offenbarung verstanden. Sie erscheint dabei wie ein Text, „als ein Gewebe symbolhafter Zeichen, die etwas anderes repräsentieren und auf etwas anderes verweisen, als sie vordergründig sind“34BILLEN, JOSEF/HASSEL, FRIEDHELM: Undeutbare Welt. Sinnsuche und Entfremdungserfahrung in deutschen Naturgedichten von Andreas Gryphius bis Friedrich Nietzsche, Würzburg 2005, 58.. Ihre Bedeutung liegt in Gott als Schöpfer, der alle Dinge und Wesen mit seinem Willen erfüllt. Seine Willensäußerungen im „Buch der Natur“ zu erkennen, ist die Aufgabe. In kontemplativer Betrachtung können sie adaptiert und in religiöses Verhalten umgesetzt werden. Brockes Betrachtungen gehen dabei stets vom Subjekt aus. In der kontemplativen Deutung der Natur wird der einzelne Mensch aus den Grenzen seines Vorstellungsbereichs gelöst.35Vgl. ebd., 58–62. So entzieht auch Boyce den Rezipienten seiner Plastik dem „mitreißenden Wirbel der Modernität“36BRÜGGEMANN, HEINZ: Die Erfindung der Stadt-Natur. Ästhetische Wahrnehmungsformen des Urbanen in der Moderne, in: ZIMMERMANN, JÖRG (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung, Stuttgart/Bad Cannstatt 1996, 385–404, hier 387., versetzt ihn zurück in eine Natur, die „in der Geschichte des Naturschönen als Raum der Kontemplation, als korrespondierender Ort, als Schauplatz der Imagination“37Ebd. erscheint.38Vgl. dazu die Darstellung von SEEL, MARTIN: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991. Der Künstler eröffnet auf diese Weise aus der Natur heraus für den, der innehält, den Raum für das „Mehr“ einer Botschaft.

Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Firmament kündet das Werk seiner Hände. Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der andern kund, ohne Rede und Worte, unhörbar bleibt ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde. (Ps 19,2–5)

Psalm 19 versteht eine Botschaft oder Kunde als Bedeutungsvermittlung im ganzen Kosmos. Beschrieben wird gewissermaßen ein kosmologischer Übersetzungsprozess, der jedoch in unverständlicher Sprache verbleibt. So ist Schöpfung nicht Gegenstand des Erkennens, sondern des Verstehens. Der Kosmos ist kein Wirrwarr, sondern Sprachzusammenhang.39Vgl. HOEPS, REINHARD: Das Wort Gottes und die Sprache der Dinge, in: Zeitschrift für katholische Theologie 112 (1990), 178–193, hier 192f. Ist die Rede vom „Buch der Natur“ neben dem Buch der Schrift, gilt es für die Physikotheologie, diese Beobachtungen der Sprache Gottes in die Sprache des Menschen zu übersetzen. Es steht außer Frage, dass diese Übersetzungsleistung nicht selbstverständlich gelingen kann. Geht man vom Buch der Weisheit 11,20 aus („Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“), lohnt es sich, nach Gottes Absichten, gewissermaßen der Intention des Autors, zu fragen. Gott versetzt den Menschen in die Lage, seinen Plan zu einzusehen – er will mit seinen Geschöpfen kommunizieren. In der zweiten Schöpfungserzählung lässt er gar den Menschen selbst die Schöpfung benennen (Gen 2,19). So gilt es zu erkennen, wie Gott im Rahmen der Natur als seiner Schöpfung mit dem Menschen als Geschöpf kommunizieren will. Für diesen Ansatz kann die Offenheit moderner und zeitgenössischer Kunst wie von Boyce entscheidende Aspekte entfalten: Sie ist deutungsoffen, ohne beliebig zu sein. Ihre Aussageabsicht, nicht die Aussage selbst ist zentral. So ist das „Buch der Natur“ nicht übersetzbar im herkömmlich inhaltlichen Sinne, daran scheitert der Wahrnehmende. Die Aufgabe ist die Entzifferungsarbeit an sich.

Durch die mutwillige Kürzung des zu Beginn zitierten Gedichts von Brockes fehlt derselbe turn wie bei We are still and reflective. Brockes löst nämlich, ganz in ästhetischer Verklärung der Natur, in der folgenden Strophe seine Symbolik auf: Der Schein des Vergissmeinnicht malt die „viel güldne[n] Striche“, die bei Boyce konsequenterweise unentziffert bleiben. Dieses Strahlen lässt Brockes drei Worte finden, die der „Schöpfer“ selbst ihm in der Betrachtung der Natur zeigt: „Vergiss mein nicht“. In die physikotheologische Tradition eines Brockes, der Betrachtung als Andachtsform versteht, fügt sich trotz seiner streng rationalen Methodik auch We are still and reflective. Es wird die Verschiedenheit der Sprache Gottes thematisiert – „des Weltbuchs A B C“, das Alphabet von Boyce – deren Inhalt der Mensch zu verstehen sucht. Brockes geht davon aus, seine Beobachtungen der Sprache Gottes nur in lyrischer Form angemessen übersetzen zu können, da die bloße Sprache des Menschen für ein solches Vorhaben nicht genügen kann. Die Poesie erst kann eine sprachmalerische Annäherung an die Schönheit der sinnhaft gestalteten Natur ermöglichen.40Vgl. PETERS: Kunst, 43–51. Auch Boyce wählt bewusst die poetische Versform für seine Botschaft. Seine Grundannahme ist die folgende: „Die Natur ist kein sich selbst genügender Mechanismus, sondern ein dynamisches Zeichensystem; ein beweglicher Spiegel, in dem wir anderes als sie selbst sehen, ein Rätsel“41Ebd., 77.. Dieses Rätsel wirft den Betrachter elementar auf sich selbst zurück: Welche Schwierigkeiten es bereitet, die Formen der Natur zu entziffern – die Metapher der Lesbarkeit wird hier problematisiert. Derart schmerzhaft mit Zusammenhanglosigkeit konfrontiert, hilft dem entziffernden Betrachter das Ornament gleich zweifach: Wo das menschliche Auges nach Regelmäßigkeit sucht, gibt es ihm Muster. Darüber hinaus ist im Fall von We are still and reflective neben der Abstraktion die Ornamentik das künstlerische Mittel der Wahl, um die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Sprache auszuloten:

Oder genauer: jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das »Medium« der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie. Zugleich deutet das Wort von der Magie der Sprache auf ein anderes: auf ihre Unendlichkeit.42BENJAMIN, WALTER: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), in: DERS.: Gesammelte Schriften. Hg. v. TEIFEMANN, ROLF/SCHWEPPENHÄUSER, HERMANN, Bd. II/1, Frankfurt a. M. 1980, 140–157, hier 142f.

Derart mit Sprache befasst, deutet das Kunstwerk von Boyce unwillkürlich und unbedingt über sich hinaus – in dem Moment, wo es Sprache in Form der Buchstaben einbezieht. Gewissermaßen bringt der Künstler Natur im Stadtraum zum Sprechen. Die Form von Naturlyrik, die Boyce mit seiner Materialität hier ausdrückt, ist ebenso statisch, wie sie es nicht ist: Die skulpturale Härte von Beton und Metall, auf das Nötigste, Wesentlichste reduziert – und quasi bevor die Poesie verrosten könnte, eröffnet sich im Zusammenspiel mit der Natürlichkeit der umgebenden Elemente, mit Regen, Unkraut, Laub und Wurzeln, ihre bedeutungstragende Spannung. An diesem Punkt des Verstehens wird der Betrachter auf sich selbst und seine Vergänglichkeit zurückgeworfen. Wo der Lauf der Natur den menschlichen Entwurf durchkreuzt, vollendet sie ihn erst. Es entsteht eine kunstvolle Synthese der Plastik mit der Natur des Stadtraums: Denn eine solche Bodenarbeit würde ohne menschliche Pflege viel schneller von der Natur wieder eingenommen als eine Plastik auf einem Sockel. Die Natur selbst ist quasi ihr Sockel, eine künstliche Symbiose. Das Moos in den Fugen ist wie eine Vorausschau, eine Ahnung, vielleicht auch ein Aufbäumen der Natur, die ihren Raum wieder zurückerobern will. Im Winter scheinen die kahlen Äste in ihren scharfen, dunklen Kanten die leeren Fugen in ihrer Form aufzunehmen. We are still and reflective ist ein 4-Jahreszeiten-Kunstwerk, das sich in seinen Details mit der Natur verändert. Die Formen der Landschaft werden auf die Architektur seiner Arbeit übertragen. Die Natur fügt dem Kunstwerk erst den dreidimensionalen Raum wirklich hinzu: Die integrierten Bäume verleihen der Vertikalität der Bodenarbeit erst ihre Form. So kann der tote Beton wachsen, lebendig bleiben und atmen, alles in ureigenster Langsamkeit im Rhythmus der Natur, wie es die Botschaft „We are still and reflective“ will. Der Rezipient erfährt durch die Entschleunigung von We are still and reflective weniger das, was Petraca als Weg zur Erkenntnis während der Besteigung des Mont Ventoux erlebt43Vgl. dazu PETRARCA, FRANCESCO: Die Besteigung des Mont Ventoux (1335), in: DERS.: Dichtungen, Briefe, Schriften. Auswahl und Einleitung v. HANNS W. EPPELSHEIMER, Frankfurt a. M. 1980, 88–98. – die Erfahrung von Natur, die zur Besinnung auf sich selbst und über die eigenen Grenzen hinaus führt, entspringt hier wohlmöglich mehr dem Effekt des aristotelischen Peripatos eines Umherschreitens in einer philosophischen Wandelhalle. In diesem Sinne wird bei Boyce ein Herumwandern notwendig, das fast an die Idee eines Kreuzgangs erinnert: Den Kopf gesenkt, ins Denken versunken, geneigt wie ein Suchender – als hätte Auguste Rodins Le Penseur sich zum andächtigen Schreiten erhoben. We are still and reflective lässt den Betrachter nach Sinn suchen, nimmt ihn mit auf einen Erkenntnisprozess, hinein in ein geschichtliches Geschehen, das sein vollendetes Werk beinhaltet, ohne jemals „fertig“ zu sein: Denn es ist fortlaufend, dieses Verstehen, das der Künstler dem Rezipienten abverlangt. Dabei füllt stets das tonlose Signal den eigentlich leeren Raum, den der Boden eröffnet. Der Wahrnehmende wird hineingenommen in eine Szene, deren Verstehen in ihm selbst bedingt ist. Begibt der Mensch sich in den Dialog mit der natürlichen Ordnung der Welt, tritt er in Beziehung mit dem Schöpfer und wird selbst zum Zeichen. Es bleibt die Aufgabe des Spuren-Lesens auf dem Weg, das Unsichtbare über das Sichtbare zu erschließen. Der Schöpfer tritt über die Sprache in Beziehung zum Geschöpf in diesem Raum, der natürlich-künstlich geschaffen ist, der die Andacht mitten in die Welt setzt, wie es eigentlich an jedem Flecken Natur möglich wäre.

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