Aus dieses Weltbuchs A B C
So viel, so schön gemalt, so rein gezog’ne Lettern;
Daß ich, dadurch gerührt, den Inhalt dieser Schrift
Begierig wünschte zu verstehn.
Ich konnt’ es überhaupt auch alsbald sehn
Und, daß er von des grossen Schöpfers Wesen
Ganz deutlich handelte; ganz deutlich lesen.
Ein jedes Gräsgen war mit Linien geziert,
Ein jedes Blatt war vollgeschrieben:
Denn jedes Äderchen, durchs Licht illuminiert,
Stellt‘ einen Buchstab vor. Allein,
Was eigentlich die Worte sein,
Blieb mir noch unbekannt […]1 Ausschnitt nach BROCKES, BARTHOLD HEINRICH: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Erster Theil, nebst einem Anhang etlicher übersetzten Fabeln des Herrn de la Motte, Bern 1970, 77.
Das Blühmlein: Vergiß mein nicht:
Barthold Heinrich Brockes (1680–1747)
So beschreibt der deutsche Schriftsteller Barthold Heinrich Brockes während der Frühaufklärung seine Bemühungen, die Signaturen der Schöpfung zu entziffern. Fast 300 Jahre später versetzt Martin Boyce mit seinem Werk We are still and reflective den Betrachter2Die in diesem Text verwendeten maskulinen Bezeichnungen umfassen Personen beiderlei Geschlechts. Diese Form wird ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwendet. in eben jene Rolle des Suchenden: Auf den Spuren von Sprechweisen der Natur eröffnet das Kunstwerk im Stadtraum Fragen des Wahrnehmens, der Sprache von Kunst und Natur, Mensch und Gott sowie nach einer sinnhaften Ordnung der Welt.
Martin Boyce: We are still and reflective (2007)
Für die Skulptur Projekte Münster im Jahr 2007 schuf der schottische Künstler Martin Boyce mit We are still and reflective eine großflächige Bodenplastik. Für den Menschen ist nicht vorhanden, was sich nicht zeigt – dem will der Bildhauer widersprechen: Es ist da, muss nur wahrgenommen werden. In diesem Sinne unterschreitet We are still and reflective die Horizontlinie. Die geformten Gussbetonplatten bedecken einen unscheinbaren Platz auf dem ehemaligen Zoogelände. 13 geometrische Formen bilden in ihrer Wiederholung ein Muster. Die einzelnen Platten ordnete der Künstler um die dort gewachsenen Bäume herum. So lässt er Kunst- und Naturformen aufeinandertreffen. An zwei Seiten geschlossen durch einen Zaun und eine Hecke, begrenzt den Raum des Kunstwerks nach oben nur der Himmel. Auf der Oberfläche wechseln Licht- und Schattenflächen je nach Stunde, Wetter und jahreszeitlicher Bewaldung der umgebenden Bäume in unterschiedlicher Intensität. Meist bilden die Baumkronen einen lichtdurchlässigen Rahmen aus Schatten an den Rändern der Grundfläche. Die naturgegebene Unregelmäßigkeit ihrer Konturen und ihre Beweglichkeit ergänzen das künstliche Rechteck unaufgeregt um die dynamische Vitalität der Natur. Dem sich Nähernden fällt das Kunstwerk als Plastik nicht auf, wenigstens eine minimale Erhebung wird erwartet. Der direkte Sichtkontakt offenbart die Struktur der ebenmäßig grauen Betonfläche: Die unterschiedliche Geometrie von parallel angeordneten schmalen Rechtecken, unregelmäßigen Drei-, Vier-, Fünf- und Sechsecken, zum Teil mit rechten Winkeln. Letztere werden in ihrer Wiederholung zum Muster und schaffen ein gewisses Gleichmaß im Gesamtbild. Die schlicht hellgrauen Bodenplatten bestehen aus Gussbeton. Gebrochen wird diese materiale Stetigkeit durch die in ausgewählte Fugen eingesetzten geraden Metallbänder. Das ursprünglich gold glänzende Messing bildet um die Kanten der geometrischen Figuren neue Formen, die stilisierte Buchstaben erzeugen. Die Großbuchstaben bilden die titelgebenden fünf englischen Worte „we are still and reflective“.
An dem vorbeiführenden Weg am Schlossgraben entlang begrenzen einzelne Bäume den Platz. An drei Stellen wird ihnen innerhalb der Bodenplastik bewusst Raum gelassen. Die Buchstaben sind in ihrer Anordnung auf den von der Stadt her kommenden Besucher an der schmalen Längsseite des Platzes ausgerichtet: Beginnt er seinen lesenden Gang an der geschlossenen oberen Ecke, sind die Buchstabengruppen von links nach rechts untereinander lesbar. Dass die einzelnen Buchstaben über ihre graphische Verfremdung hinaus seitlich oder kopfüber liegen, erschwert jedoch die Entzifferung. Die Nachricht „we are still and reflective“ ist gleichzeitig schwer zu verstehen und leicht zu übersehen:3Vgl. skulptur projekte münster 07/LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Hg.): skulptur projekte münster 07. Kurzführer. Text von FRANK FRANGENBERG, Köln 2007, 19. „Doch mit dem Wissen um den in den Boden eingelassenen Satz füllt sich der verlassene Ort mit Emotion und Sinn. Das tonlose Signal, das der Boden beständig sendet, buhlt nicht um unsere Aufmerksamkeit, es hat alle Zeit der Welt.“4Ebd. Schon der Titel gibt also vor, dass es ein Signal zu entschlüsseln gilt. Daher verlangt dieses Kunstwerk auch eine Beschäftigung mit Sprache per se. Spielerisch setzt Boyce sich mit linguistischen Erkenntnisebenen auseinander: Formen als Buchstaben zu erkennen, Buchstaben als Worte, Worte als Sätze.
Künstlerisch befasst sich Martin Boyce als international bedeutender Bildhauer mit dem urbanen Raum und seinen Spannungen. In der zeitgenössischen Stadtlandschaft pointiert er den Gegensatz von Konstruktion und Natur, Belebtem und Brache. Das Element der Bäume wird für We are still and reflective konstruktiver und dekorativer Grundstein. Zwischen Park- und Spielplatz schafft er in die ehemals städtische Leerstelle eine gleichzeitig nüchterne und meditative Fläche.5Vgl. WESTFÄLISCHER KUNSTVEREIN: Martin Boyce, entnommen am 09.01.2018: http://www.westfaelischer-kunstverein.de/ausstellungen/archiv/2008/martin-boyce/. Planvoll angelegt wie ein Garten ist seine Bodenarbeit. Für den Künstler selbst ist die Beschäftigung mit dem Garten als Motiv und Konzept eine Fortsetzung seines Interesses für öffentliche Plätze und Parks. Dabei liegt sein Blick auf dem wesentlichen Unterschied, dass ein Garten nicht zur Natur, sondern zur Architektur gehört. Ihn fasziniert das breite Spektrum des Gartens vom Prominieren in der Öffentlichkeit bis hin zu Einkehr und Besinnlichkeit. Letzterer Aspekt ist es, den Boyce in We are still and reflective aufgreift. Verlässt man die Münsteraner Innenstadt über den Ring der Promenade, nimmt sich die Natur hier zunehmend Raum. An der Schlossgräfte entlang gehend, lässt Boyce den Wahrnehmenden nochmals auf Beton als städtisches Baumaterial treffen. Doch der künstliche Stein wird scheinbar schon wieder von der Natur vereinnahmt. Hört sie dort auf oder fängt sie wieder an? Was wächst hier in was? Der Prozess schwankt zwischen Überwuchern und Ineinander-Wachsen: „Die Natur lässt sich eben nicht aufhalten, nicht einmal in ihrer am stärksten kontrollierten, rationalen Form.“6 GANZENBERG, CHRISTIAN: Ein Gespräch zwischen Martin Boyce und Christian Ganzenberg, in: DERS./WIEHAGER, RENATE: Martin Boyce. Hg. v. Daimler Art Collection/Daimler AG, Köln 2012, 59–67, hier 66. An der Grenze zur Natur werden die umgebenden Ausläufer des Schlossgartens zum machtvollen Raum, zu dem die reduzierte materiale Präsenz der Bodenplastik in Beziehung tritt. Es entsteht ein stiller Ort der Suche nach Harmonie. Hier wird der Wahrnehmende eingefasst durch die Worte von Boyce, geboren aus der Vorlage kubistischer Baum-Plastiken, und eben jenen in ihrer natürlichen Urform. Umgeben von den natürlichen Bäumen des auslaufenden Schlossgartens eröffnet Boyce die künstlerische Spannung zwischen der Schwere des Materials Beton und der Fragilität der Muster und ihrer Ausarbeitung. Was den Künstler reizt, ist „der Balanceakt zwischen einer klarlinigen Industrieästhetik und einem stärker emotionalen Ausdruck. Die Betonbäume verbinden die Poesie von Naturdarstellungen mit Ideen der damaligen Architektur.“7Ebd., 60. Das sagt Boyce zu seiner Inspiration durch die Fotographien von vier kubistischen Betonbäumen, die 1925 von den Zwillingen Jan und Joël Martel für die Pariser Freilichtausstellung L’Exposition des Arts Décoratifs et Industriels Modernes geschaffen wurden.8Jan und Joël Martel (1896–1966) begannen in den frühen 20er Jahren zunehmend, natürlich gegebene Modelle unter Einfluss kubistischer Konzepte in geometrisierte Maße aufzuschlüsseln. 1925 gestalteten sie während der Exposition Nationale für den vom Architekten ROBERTMALLET-STEVENS designten Garten eine Baumgruppe, die „arbres schématiques“. An diesen wird deutlich, wie die Künstlerzwillinge mit der Zeit alle Details reduzierten, um ihre Plastiken als fließende Formen zu modellieren. (Vgl. DUNCAN, ALISTAIR: Art deco sculpture, London 2016, 38f.) Abbildung: https://3.bp.blogspot.com/-AzIe7OrTCio/UrMwMADVxlI/AAAAAAABP30/hvdqL1pT-Z0/s1600/Les+%20arbres+cubiques+Mallet-Stevens.jpg Sie wurden zu einem Leitmotiv von Boyce Arbeit. Aus ihren Silhouetten entstand ein Modulsystem, das der Künstler für verschiedenste Zwecke verwendet. Mehr als eine Handschrift wird das Wiederholen verwandter Formen als Arbeitspraxis gleichzeitig Grundprinzip des Inhalts. „Ein verästeltes poetisches Formsystem“ nennt Christian Ganzenberger diese Ausdrucksweise von Boyce.9Vgl. GANZENBERG: Gespräch, 59f. Der Künstler selbst erzählt, dass dieses repetitive Linienmuster jenes grafischen Waldes ihm Buchstaben, Wörter und Formen zuflüstere. Die arbres schématiques haben Boyce zu seinem Schriftbild geführt, das für die Skulptur Projekte zwischen Beton und natürlichen Bäumen Gestalt annimmt.10Ebd., 61. Auf jene Sammlung des Formrepertoires von Buchstaben greift er für die Münsteraner Plastik zurück und verarbeitet sie in neuem Kontext. Es ist diese dem Künstler gänzlich zu eigen gewordene Typografie, die einen eingeweihten Betrachter benötigt: „Eine Kunst der Verweise und Zitate“11GAMERT, CHRISTIAN: Installationen von Martin Boyce. Kunst für Eingeweihte, eingestellt am 26.04.2015, entnommen am 30.08.2019: https://www.deutschlandfunk.de/installationen-von-martin-boyce-kunst-fuer-eingeweihte.691.de.html?dram:article_id=318219., die nur dem Boyce-Musikalischen eingängig wird.
Der Betrachter von We are still and reflective erbringt seine Wahrnehmungsleistung nicht unwillkürlich. Die Wahrnehmung selbst wird zur Kunst erhoben, da nicht auf den ersten Blick erkennbar wird, dass eine Entzifferungsarbeit nötig ist. Boyce Sprache verlangt einen aktiv Suchenden, ein sich dem Verstehen bewusst öffnendes Gegenüber. Im Sinne des linguistic turn hinterfragt Boyce auf graphische Weise das Medium Sprache in seiner Transparenz. Sie wird in ihrer dinghaften Eigenschaft, der Schrift, zum Dreh- und Angelpunkt seiner Auseinandersetzung. Zentral ist dabei der fast epiphanische Moment seiner eigenen Erkenntnis: „Als aus dem Muster Buchstaben und Wörter hervortraten, begannen die Bäume zu sprechen.“12GANZENBERG: Gespräch, 65. In logischer Konsequenz dieses Prinzips behandelt der Künstler Sprache in seinen Arbeiten fragmentarisch. In den Konturen der arbres schématiques entdeckt er zuerst die Initialen des Architekten Robert Mallet-Stevens, danach begibt er sich auf die Suche nach dem ganzen Alphabet. Es erstaunt ihn, dass er in den geometrischen Umrissen der kubistischen Plastiken für jeden Buchstaben eine entsprechende Darstellungsmöglichkeit entdeckt. Obwohl er diese Methode als planlos empfindet, wird in jenem systematischen Übersetzungsvorgang, der Zeichen und Bedeutung zusammenbringt, die physikotheologische Idee eines schöpferischen Akts ersichtlich: Die Suche nach einer eingelassenen sinnhaften Ordnung in der Welt.13Vgl. LOTZ, ANTONIA im Gespräch mit Martin Boyce, in: skultpur projekte münster 07/Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster/Kunstakademie Münster (Hg.): skulptur projekte münster 07, Vorspann. Konzept und Redaktion: AMANSHAUSER, HILDEGUND/FRANZEN, BRIGITTE, Köln 2007, 32–43, hier 39. Die etablierte Zeichenordnung der Semiotik folgt dem einfachen Gesetz, dass der Blick durch die gegenwärtige Materialität des Zeichens in Distanz zur Welt hindurch zur abwesenden Schicht der Bedeutung gelangt. „Wilde Semiose“ nennt Aleida Assmann den potentiell subversiven Einsturz dieses Fundaments: Indem die Materialität des Zeichens adaptiert und die Präsenz der Welt wiederhergestellt wird, können über bestehenden Sinn hinaus neue Assoziationen und Bedeutungen entstehen. Damit korrespondiert auch ihre Unterscheidung in den langen und den schnellen Blick, das Lesen und das Starren. Dem Modus des Lesens, mit dem schnellen, die Oberfläche durchdringenden Blick, wird der faszinierte lange Blick gegenübergestellt, der an der Dichte der Oberfläche hängen bleibt. Aus dem Spiel mit diesen Modi menschlichen Deutungsverhaltens führt Boyces Kunstwerk den Betrachter zu einem kontemplativen Blick. Zwischen dem Lesen als referentiellen Verfahren und dem Starren als medialen Akt eröffnet sich eine unerschöpfliche Vieldeutigkeit, die mit einer Unübersetzbarkeit verbunden ist. Schon an der Übersetzung des Titels scheitert der Betrachter. Doch dieses Scheitern hat Methode: Die Signaturen göttlicher Offenbarung in der Natur sind nicht auszulesen. Es bedarf einer „stummen Gegensprache“ – mit dem Starren muss die Einsicht in die Unlesbarkeit der Welt einhergehen. Der Umgang mit Zeichen schwankt bei Boyce so sehr zwischen der Sprache der Menschen und der Sprache der Dinge, dass die Grenzen zwischen historischer Suche nach dem Code in der göttlichen Schöpfung für den menschlichen Adressaten und der modernen Entdeckung der Materie, für einen unbeteiligten Betrachter zur Bearbeitung freigegeben, verschwimmen. Paradox ist die übrig bleibende Sprache, in der transzendenter Sinn und innerweltliche Ordnung ebenso unvereinbar wie unverzichtbar nebeneinander stehen.14Vgl. ASSMANN, ALEIDA: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: GUMBRECHT, HANS ULRICH/PFEIFFER, KARL LUDWIG (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, 237–251, hier 238–249. Boyce bezieht den Betrachter mit seinen Kunstwerken jenseits von Zeit und Raum als Orte der Ruhe in jene Sinnsuche mit ein und verspricht: „Wer Zugang findet zu diesem natürlich andauernden Zustand, kann in der Zeitschleife verharren.“15GANZENBERG: Gespräch, 63. So beinhaltet Boyce Bodenarbeit Poesie in erstarrtem Charakter. Mitten in der Natur hält er den Verfallsprozess der Welt und ihrer Zeit an. Ein utopisches Vorhaben, den augenblicklichen Zustand zu konservieren.16Vgl. ebd., 64. Der Künstler erzählt, dass er als Jugendlicher unter anderem in der Bibliothek lernte, „jene Dinge zu erkennen, die mich wirklich ansprachen, die auf eine Welt jenseits meiner eigenen verwiesen und doch Teil meines Alltags waren.“17Ebd., 65. Aus jener Erfahrung erwächst We are still and reflective. Die Dekonstruktion des Natürlichen soll als Konzentration des Blicks auf das Wesentliche wirken. So reduziert und abstrahiert Boyce Denkweise ist, bleibt er doch letztlich bei solch Konkretem wie dem sinnbehafteten Wort hängen. Die Sprache der Dinge ist bei Boyce Schriftsprache und diese wiederum verlangt Bereitschaft zu entziffern, zu lesen und zu verstehen: „Es genügt also nicht, die Dinge der Natur einfach zu beschreiben, vielmehr muß der Moment, das Ereignis der Wahrnehmung mit dargestellt werden.“18WAGNER-EGELHAAF, MARTINA: Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten. Zur Medialität der literarischen Wahrnehmung am Beispiel Barthold Hinrich Brockes‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), 183–216, hier 187. So wie Brockes mit der Medialität des Blicks experimentiert, inszeniert auch Boyce die Wahrnehmung: Das Phänomen des Zusammenfügens einzelner Elemente zu einem großen Ganzen als Erkenntnisprozess, in dem man nur aus unmenschlicher Distanz, der Vogelperspektive, den Gesamteindruck des Werks aufnehmen kann.19Vgl. ebd., 195f.
Boyce schafft mit seinen Werken „imaginäre Landschaften“. Er füllt das inhärente es war einmal verlassener Orte durch fiktive Texte mit Emotion.20Vgl. LOTZ: Gespräch, 35. Die „Verlassenheit ist deshalb interessant, weil sie ein Zwischenstadium darstellt: nach der ihr vorausgehenden ‚Vollständigkeit‘ und vor dem ihr folgenden gänzlichen Verschwinden oder der Wiederherstellung der Vollständigkeit.“21 LOTZ: Gespräch, 36. Diese Phase der Verlassenheit nutzt Boyce, um einen Moment des Einhaltens zwischen Himmel und Erde, in der Spannung zwischen Natur und Stadt, zu ermöglichen. So erhöht sich in der eingewachsenen Form der Bodenarbeit – mit Unkraut, verschmutzten Steinen und unpolierten Messingeinsätzen – geradezu die Lesbarkeit des Kunstwerks. Das Kunstwerk tritt in einen „ehemaligen“ Ort. Ehemals war diese städtische Leerstelle mit dem Zoo von blühendem Leben gefüllt. Die Bewegung der Lebewesen ist vorüber, die Bodenarbeit ersetzt sie mit Statik: Eckigen Buchstaben – begradigt, wo Rundungen waren. Beweglichkeit bietet die Plastik an sich nicht mit ihren graphischen Elementen, und doch: Der Platz bewegt den Betrachter, macht ihn zum Bewegten in seinem Wahrnehmungsgeschehen und Erkenntnisprozess an einem Ort, wo vormals jede Bewegung vergangen war. Der Beton ist hineingegossen in einen figürlichen Rahmen, wie ein unnatürlicher Fußboden auf der Erde. Das Kunstwerk fällt gerade da aus diesem Rahmen, wo es auf die Natur trifft: Den Bäumen wird ein sternförmiger eigener Platz eingeräumt – so nimmt der Ort sich seinen Raum in Boyce Platz. Die Natur füllt eine Leerstelle, bildet mit den Baumstämmen ein Hindernis für den Umhergehenden, wo eigentlich kein Raum in der vollkommenen Geometrie des künstlerisch-künstlich vorgegebenen Rechtecks ist. Das Muster der geometrischen Platten, die an Glasscherben erinnern, ist regelmäßig, obwohl die Platten selbst in ihren irritierenden Formen als variierende Vielecke dem Betrachter Unregelmäßigkeit suggerieren. Streng methodisch-rational wählt Boyce für seinen Platz die mathematische Struktur einer aperiodischen Parkettierung, innerhalb derer sich dieselbe Anordnung der Steinkacheln ausschnittweise wiederholt. Die regelmäßige Fläche wird so zyklisch mit unregelmäßigen Formen gefüllt, dass sich die scherbenhaften Leerstellen für die natürlichen Gegebenheiten logisch darin einfügen. Aus der Vogelperspektive erst ergibt sich die vollkommene Harmonie der eingelassenen Ordnung. Es ist dasselbe Ordnungsprinzip der Schöpfung, das dem Verständnis des Menschen auf den ersten Blick entzogen bleibt.
Mit jener Wiederholung des variierenden Grundmusters füllt Boyce das Kunstwerk und macht auf diese Weise Sprache in graphischer Form zum Ornament. Es füllt zeichenhaft den Raum der Bodenarbeit We are still and reflective als Form und Sinn. Sein Ornament erhält somit bedeutungstragende Funktion. Schon im Alten Orient entspringt das Ornamentale aus natürlichen Vorbildern und wird durch den Menschen in geometrischer Form weiter verwendet und in Form gebracht. Boyce entnimmt die Ornamentik Bäumen, indem er sein Ornament aus ihrer Adaption in den arbres schématiques der Brüder Martel entwickelt. Die Natürlichkeit des Ornaments liegt also in seinem Ursprung. Es entspringt aus gegebenen Formen innerhalb der Schöpfung und ist somit eine Form des Ausdrucks von Natur. Boyce spielt mit den Polen von Künstlich und Natürlich in seiner Sprach-Form. Das Ornament wird zum gestaltenden Element – die geometrischen Kacheln sind gleichzeitig Rahmen, Gliederung und Füllung. Die sich wiederholenden Feldformen erzeugen ein Muster, das sich dem umher wandelnden, Entschlüsselung und Regelmäßigkeit suchenden Betrachter jedoch immer wieder entzieht. Auf der Betonfläche als Ornament des natürlichen Bodens eröffnen die Messingstäbe der Buchstaben wiederum eine neue ornamentale Ebene. Vielschichtig muss die Wahrnehmung also sein und jederzeit bereit, eine Metaebene einzubeziehen.22 Mit der Verbindung von Ornamentik und Natur hat sich Boyce bereits 2010 für die KölnSkulptur #6 (2011–2013) im Rahmen seiner Arbeit Warm Dry Stone and Palm Leaves beschäftigt. Auch hier verwendet er die kubistischen Bäume der Brüder Martel als Quelle seines Motivkanons. Das Grundmotiv hat Boyce für den Kölner Skulpturenpark in die Oberfläche von drei Bankelementen schneiden lassen. Diese Perforierung bildet ein Ornament, das in Kombination mit dem Gartenschlauch als Paravent mit den Grundelementen eines Parks in die Vertikale gebracht wird. (Vgl. Teilnehmende Künstler der KölnSkulptur #6 (2011–2013): Martin Boyce, entnommen am 13.01.2018: http://www.skulpturenparkkoeln.de/de/ausstellungkoelnskulptur/koelnskulptur-6/19/197.html? ausstellungsview=1. Das Ornament ist demnach ein wesentliches Charakteristikum von Boyce Bodenarbeit. Es definiert die Räumlichkeit der Plastik durch sein immanentes Signal, dessen Entzifferung den Betrachter über den Platz leitet. Während der durch die Ornamentik geführten Bewegung eröffnet sich dem Rezipienten an unterschiedlichen Punkten eine Metaebene: Wenn der natürliche Boden in Form von Unkraut in die Sphäre des künstlich geschaffenen Bodens eintritt. Wenn das Laub den Platz bedeckt und auf diese Weise die Natur ihr eigenes Muster zeichnet. Wenn die Sonne vom Messing reflektiert wird und die Botschaft auch optisch aus dem Boden heraussteigt. Dann wird der Betrachter vom Wahrnehmenden zum Teilnehmenden: Er ist gefordert, sich über die ornamentale Eigenschaft von Sprache auf die Suche nach Inhalt jenseits des Dekorativen zu machen. Als Schule der Wahrnehmung führt Boyce mithilfe seiner Ornamentik den Betrachter als Sehenden, Lesenden und Verstehenden in die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Übersetzungsarbeit ein.
„Poetical investigation“ betitelt eine Galerie die streng methodische Arbeitsweise von Martin Boyce. Er erforscht die Knoten- und Schnittpunkte zwischen Kunst, Architektur, Design und Natur.23 Vgl. TANYA BONAKDAR GALLERY: Martin Boyce Biography, entnommen am 21.01.2018: http://www.tanyabonakdargallery.com/artists/martin-boyce/series-works_3/17. Tatsächlich ist die Methodik der Dreh- und Angelpunkt: We are still and reflective widmet sich der künstlerischen Abstraktion der Natur in Kombination mit der Untersuchung von Sprache. Die Entstehungsgeschichte der Formsprache des Künstlers ist dabei von entscheidender Bedeutung: Sie ist das Handwerkszeug seiner künstlerisch-investigativen Arbeit. Wenn in seinem Erkenntnismoment aus dem graphischen Wald Buchstaben auftauchen, macht ihn die Natur selbst, beziehungsweise ihre gegebenen Formen sprachfähig, versetzt ihn überhaupt erst in die Lage, eine Aussage zu treffen.24 Vgl. BEAVEN, KIRSTIE: Tate Debate: How much of the story behind a work do you need (or want) to know? Eingestellt am 8.12.2011, entnommen am 28.03.2018: http://www.tate.org.uk/context-comment/blogs/tate-debate-how-much-story-behind-work-do-you-need-or-want-know, Minute 1:46–2:10. Er wählt diese Formen als plastische Übersetzungen von Natur und macht sie zu seiner „gleichsam grammatikalische[n] Basis“, stellt RENATE WIEHAGER fest und erkennt damit, dass Boyce eher das wissenschaftlich-reflektierte Bewusstsein von Sprache interessiert als das poetische Gespür für den Inhalt derselben. Es ist diese explizite, dem Kunstwerk eigene – geradezu eine „Geheimsprache“, die Boyce zur Meisterschaft bringt. Das führte 2012 zu der Posse, dass Besucher der Lokalzeitung gestohlene Messingstäbe meldeten, ein großer Artikel erschien – der dank einem Plan der Besitzer und dem Einsatz eines Besens wieder revidiert werden musste. Folgendes Fazit wurde aus dem Missverständnis gezogen:
Vielleicht ist es gerade das Verborgene, was den Genuss- und Erkenntniswert dieser Arbeit ausmacht: Oder um es mit dem Zen-Meister Thich Nhat Hanh […] zu sagen: ‚As I carefully sweep the ground of enlightenment. A tree of understanding springs out from the earth‘ (Während ich mit Sorgfalt den Boden der Erleuchtung fege, entspringt der Erde ein Baum des Verständnis).25KOCK, GERHARD: Schrift gestohlen. Metallstäbe aus der Bodenskulptur von Martin Boyce verschwunden, eingestellt am 10.10.2012, entnommen am 20.01.2018: http://www.wn.de/Muenster/Kultur/2012/10/Schrift-gestohlen-Metallstaebe-aus-der-Boden-Skulptur-von-Martin-Boyce-verschwunden.
Dies ist ein eindrucksvolles Zeugnis des Scheiterns im Übersetzungsprozess. Man darf von Glück sprechen, dass so etwas möglich bleibt und die Lesbarkeit nicht vorgeschrieben wird. Denn durch Boyce Sprachweise entsteht hier im Besonderen die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns aus dem Kunstwerk selbst – es werden Fragen aufgeworfen zum Verhältnis von Mensch und Stadt, Stadt und Natur, Natur und Gott. Die ureigene Semiotik, die We are still and reflective mit seinen in unterschiedlichen Winkeln angeordneten Buchstaben aufweist, fügt Botschaft, Natur und Werk in ein organisches System. Das Kunstwerk führt mit seiner poetischen Strategie den Betrachter hinaus aus den städtischen Räumlichkeitsverhältnissen: Ebenso wie die Natur von dem Beton der Stadt begrenzt wird, begrenzen die Bäume die Plastik. Bereitwillig räumt Boyce ihnen sogar einen sternförmigen Platz im Inneren ein. Er öffnet den begrenzten Raum des Menschen im Rahmen der Natur gen Himmel. Er erdet gleichermaßen den Blick, wie er ihn erhöht. Diese Dynamik bleibt stets umfangen von dem immanenten Signal: Der Titel „We are still and reflective“ spielt mit der Doppeldeutigkeit der einzelnen Worte. Diese führt im Falle von „still“ („ruhig“ oder „noch“) und „reflective“ („spiegelnd“ oder „nachdenklich“) zu einem Übersetzungsproblem: „We are still“ im Sinne von „wir sind immer noch (da, existieren)“ bedeutet etwas grundsätzlich anderes als „wir werden ruhig“, genauso im Unterschied von „wir sind nachdenklich“ zu „wir sind (denken) reflektiert“. Der Zusatz „like stars and broken glass” steht in Klammern und bietet als Ergänzung auf einem zugehörigen Schild keinen Hinweis auf eine eindeutige Klärung des Inhalts dieses Verses. Sicher ist nur, dass der Künstler ihn bedeutungstragend designt hat. Um welche konkrete Bedeutung es sich handelt, bleibt verborgen. Vielmehr geht es um die Erkenntnisstufen und wie der Betrachter sich dem immanenten Signal nähern kann. Dies ist im Übrigen hier wörtlich zu nehmen: Die für den Menschen natürliche Haltung des Gehens muss als Bewegung künstlich unterbrochen werden, um auf der Suche nach dem „Mehr“ innezuhalten. So wird der Wahrnehmende auf einen tatsächlichen Erkenntnisweg geführt. Für diesen geht Boyce davon aus, dass alles, was ist, sprachlich verfasst ist. Indem der Betrachter das Werk als Wahrnehmender und Teilnehmender mit seiner Erkenntnis vollendet, macht das Kunstwerk ihn in einer wechselseitigen Dynamik sprachfähig: Durch die unendlichen neuen Kombinationsmöglichkeiten des geometrischen Vokabulars ohne den Zwang der Neuschöpfung lässt Boyce die menschliche Sprache über ihre Begrenztheit hinauswachsen.26 Vgl. GAMPERT: Installationen. Im Sinne von Johann Georg Hamanns Aesthetica in nuce: Boyce verbindet mit seiner Botschaft „We are still and reflective“ Poesie als sprachliches Bildschaffen mit künstlerischem Schaffen. Wie in der Schöpfung alles seine Bedeutung hat, sind Naturdinge auch Bilder, also eine Sprache. Diese setzt sich mit der Natur auseinander, es entsteht ein Schöpfungszusammenhang als Sprachzusammenhang: „Rede, dass ich dich sehe!“ Der Poet, der das Bewusstsein der Sprache hat, wird zum Übersetzer. Die Natur wird ansprechbar. Im Entzifferungsprozess der Schöpfung eröffnet sich dem Wahrnehmenden die Möglichkeit der Teilhabe am Dargestellten.27Vgl. dazu HAMANN, JOHANN GEORG: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce (1759/1762). Hg. v. JØRGENSEN, SVEN-Aage, Stuttgart 1983.
Physikotheologische Perspektiven
Das Signal von We are still and reflective eröffnet sich jedoch nur dem, der auch hinsehen will. Nur für den, der sich darauf einlässt, fügen sich aus der scheinbaren Verlassenheit des Platzes Metallstäbe zu Buchstaben und diese zu Worten und diese zu einer Botschaft zusammen. Schon bevor der Betrachter die Gewissheit einer immanenten Botschaft hat, wird von ihm also das Vertrauen, der Glaube an ihre Existenz verlangt. So verhält es sich mit Entzifferungsprozessen im Allgemeinen wie mit denen der Physikotheologen, die aus der Natur selbst lesen.
Zuletzt bleibt also die physikotheologische Frage, ob die Natur zu Erkenntnissen im Hinblick auf Gott führen, ob von der Schöpfung auf den Schöpfer geschlossen werden kann. Induktiv und empirisch gehen die Physikotheologen der Geschichte auf der Suche nach Antworten vor, sie argumentieren aus der akribischen Beobachtung der Natur heraus. Denn seit dem 19. Jahrhundert verlieren die natürlichen Lebensräume den Charakter der Wildnis. Diese landschaftliche Veränderung der Lebenswelt zeigt auf, was Max Weber mit „Entzauberung als Grundsignatur der Moderne“ beschreibt. Die Auffassung des Menschen von sich selbst und seinem Verhältnis zur Natur veränderte sich nachhaltig: Forscher wie Galilei und Newton sorgten mit ihren Erkenntnissen dafür, dass Gott als Schöpfer gewissermaßen in den Ruhestand versetzt wurde. Die Welt folgt den Gesetzen ihrer eingelassenen Ordnung. Dieser Gedanke einer Ordnung des Universums, Gottes als Uhrmacher, begeisterte in der Physikotheologie der Aufklärer. Charles Darwins Beschreibung eines Ausflugs in den brasilianischen Urwald ist Zeugnis, dass trotz der wissenschaftlich-technischen Entzauberung der Natur, ihr unmittelbares Erleben eine ästhetische Aufwertung erfuhr. Landschaftsmalerei und literarische Naturschilderungen des 19. Jahrhunderts spiegeln diesen Trend ebenfalls wieder: Die besondere Erfahrung der Natur und ihre Nähe zur religiösen Erfahrung – Gott in der Natur begegnen. Was die naturwissenschaftliche Perspektive ausblendet, ist die transzendente Dimension der Wirklichkeit, die in der ästhetischen Naturerfahrung sichtbar wird. Jener Entzauberung setzt Martin Boyce als gegenläufigen Prozess eine Verzauberung entgegen: Er impliziert Symbolik und Inhalt in den natürlichen Lebensraum und versetzt damit den Betrachter in die Lage der Physiker der Moderne wie Einstein und Hawing, sich „still and reflective“ mit den letzten großen Fragen zu beschäftigen. Dies zollt der Transformation Rechnung, die das traditionelle Christentum hin zu einer Frömmigkeit erlebt, die Transzendenz über die kirchliche Praxis hinaus in der Weltbegegnung erfährt und artikuliert.28Vgl. LAUSTER, JÖRG: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. 4., durchges. Aufl., München 2016, 556–572.
Barthold Heinrich Brockes gründete die Hamburger Literartradition des „Buchs der Natur“. Seine Sammlung „Irdisches Vergnügen in Gott“ prägte die Topoi von Gottes Wortgewalt innerhalb der Natur. Seine Naturfrömmigkeit ging von der Lesbarkeit der Welt aus, ohne doktrinär das Buch der Schrift und die Kirche vom Offenbarungsgeschehen auszuschließen. Brockes Weltbuchmetapher hält ihn in der aufklärerischen Tradition von Empirismus und Sensualismus dazu an, geradezu kleinlich die Botschaften zu sammeln und lesen, die in der Natur an den Menschen verteilt sind.29Vgl. BLUMENBERG,HANS: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981., 180–182. Der Schriftsteller öffnet den formalen Garten der Poesie zur Landschaft hin und versucht darin, das Verhältnis von Kunst und Natur neu zu bestimmen. So wurde für ihn der Garten zum Sinnbild physikotheologischer Poesie. Dort verbinden sich Kunst und Natur zur vollkommenen Schönheit.30Vgl. PETERS, GÜNTER: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brockes, Goethe und Gautier, München 1993, 44. Es ist der „Ort andächtiger Naturbetrachtung, an dem die Seele über die engen Interessen bürgerlicher Existenz hinausgeführt wird, ohne den Halt darin zu verlieren. […] Seine Dichtung folgt einer Ethik der Kontemplation, deren naturästhetische, künstlerische und wissenschaftliche Komponenten in einer religiösen Aufmerksamkeit für die Schöpfung gründen.“31Ebd., 49. Diese Ethik der Kontemplation ist als Grundtenor auch bei We are still and reflective wahrnehmbar. Das tonlose Signal, das Boyce seinem Kunstwerk eingibt, zeigt wie auch Poesie zum Garten werden kann:
[…] ein Ort, wo der »Fleiß« aufmerksam forschender Beschreibung, der »Nutz« moralisch-religiöser Erbauung und die »Lust« genußvoller Repräsentation des Schönen sich stets »verschwistert« finden. Die Poesie des Gartens ist dazu geschaffen, die Sinne für die Schönheit der Natur zu erschließen, so daß Allmacht, Weisheit und Güte des Schöpfers darin erkannt werden. Sie ist der Lustort schlechthin, Ort des »sinnlichen Gottesdienstes«.32Ebd., 44.
Von einer ästhetischen Verklärung der Natur in diesem Zusammenhang ist für Hamann abzusehen: Wäre die Natur ein Buch, dessen Buchstaben, Wörter und Sprache wir kennen, reichte das allein noch nicht aus, um das Buch zu verstehen und darüber zu urteilen. Nach Hamann gehört mehr als Physik dazu, die Natur auszulegen. Die Physik ist nur das ABC für die Natur als Zeitgleichung einer unbekannten Größe. Die Bedeutung derselben für den Menschen kann nicht aus wissenschaftlichen Erklärungen errechnet werden. Sie muss ebenso wie die biblische Urgeschichte erzählt werden. Lediglich im Licht dieser unbekannten Größe kann die Natur wahrhaft verstanden werden. Naturwissenschaftlich Erklärbares auslegend zu verstehen, ist somit nur durch das Medium der Erzählung möglich.33Vgl. BAYER, OSWALD: Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 254. In diesem Sinne erzählt auch Boyce: Schon die Abstraktion als Methode verlangt, sich von ästhetischer Verklärung der Natur oder gar naiver Naturfrömmigkeit zu lösen.
Das Bild vom „Buch der Natur“ wird zu einer Tradition im christlichen Denken der folgenden Jahrhunderte. Parallel zur Heiligen Schrift wird die Natur als Werkzeug göttlicher Offenbarung verstanden. Sie erscheint dabei wie ein Text, „als ein Gewebe symbolhafter Zeichen, die etwas anderes repräsentieren und auf etwas anderes verweisen, als sie vordergründig sind“34BILLEN, JOSEF/HASSEL, FRIEDHELM: Undeutbare Welt. Sinnsuche und Entfremdungserfahrung in deutschen Naturgedichten von Andreas Gryphius bis Friedrich Nietzsche, Würzburg 2005, 58.. Ihre Bedeutung liegt in Gott als Schöpfer, der alle Dinge und Wesen mit seinem Willen erfüllt. Seine Willensäußerungen im „Buch der Natur“ zu erkennen, ist die Aufgabe. In kontemplativer Betrachtung können sie adaptiert und in religiöses Verhalten umgesetzt werden. Brockes Betrachtungen gehen dabei stets vom Subjekt aus. In der kontemplativen Deutung der Natur wird der einzelne Mensch aus den Grenzen seines Vorstellungsbereichs gelöst.35Vgl. ebd., 58–62. So entzieht auch Boyce den Rezipienten seiner Plastik dem „mitreißenden Wirbel der Modernität“36BRÜGGEMANN, HEINZ: Die Erfindung der Stadt-Natur. Ästhetische Wahrnehmungsformen des Urbanen in der Moderne, in: ZIMMERMANN, JÖRG (Hg.): Ästhetik und Naturerfahrung, Stuttgart/Bad Cannstatt 1996, 385–404, hier 387., versetzt ihn zurück in eine Natur, die „in der Geschichte des Naturschönen als Raum der Kontemplation, als korrespondierender Ort, als Schauplatz der Imagination“37Ebd. erscheint.38Vgl. dazu die Darstellung von SEEL, MARTIN: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a. M. 1991. Der Künstler eröffnet auf diese Weise aus der Natur heraus für den, der innehält, den Raum für das „Mehr“ einer Botschaft.
Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Firmament kündet das Werk seiner Hände. Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der andern kund, ohne Rede und Worte, unhörbar bleibt ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde. (Ps 19,2–5)
Psalm 19 versteht eine Botschaft oder Kunde als Bedeutungsvermittlung im ganzen Kosmos. Beschrieben wird gewissermaßen ein kosmologischer Übersetzungsprozess, der jedoch in unverständlicher Sprache verbleibt. So ist Schöpfung nicht Gegenstand des Erkennens, sondern des Verstehens. Der Kosmos ist kein Wirrwarr, sondern Sprachzusammenhang.39Vgl. HOEPS, REINHARD: Das Wort Gottes und die Sprache der Dinge, in: Zeitschrift für katholische Theologie 112 (1990), 178–193, hier 192f. Ist die Rede vom „Buch der Natur“ neben dem Buch der Schrift, gilt es für die Physikotheologie, diese Beobachtungen der Sprache Gottes in die Sprache des Menschen zu übersetzen. Es steht außer Frage, dass diese Übersetzungsleistung nicht selbstverständlich gelingen kann. Geht man vom Buch der Weisheit 11,20 aus („Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“), lohnt es sich, nach Gottes Absichten, gewissermaßen der Intention des Autors, zu fragen. Gott versetzt den Menschen in die Lage, seinen Plan zu einzusehen – er will mit seinen Geschöpfen kommunizieren. In der zweiten Schöpfungserzählung lässt er gar den Menschen selbst die Schöpfung benennen (Gen 2,19). So gilt es zu erkennen, wie Gott im Rahmen der Natur als seiner Schöpfung mit dem Menschen als Geschöpf kommunizieren will. Für diesen Ansatz kann die Offenheit moderner und zeitgenössischer Kunst wie von Boyce entscheidende Aspekte entfalten: Sie ist deutungsoffen, ohne beliebig zu sein. Ihre Aussageabsicht, nicht die Aussage selbst ist zentral. So ist das „Buch der Natur“ nicht übersetzbar im herkömmlich inhaltlichen Sinne, daran scheitert der Wahrnehmende. Die Aufgabe ist die Entzifferungsarbeit an sich.
Durch die mutwillige Kürzung des zu Beginn zitierten Gedichts von Brockes fehlt derselbe turn wie bei We are still and reflective. Brockes löst nämlich, ganz in ästhetischer Verklärung der Natur, in der folgenden Strophe seine Symbolik auf: Der Schein des Vergissmeinnicht malt die „viel güldne[n] Striche“, die bei Boyce konsequenterweise unentziffert bleiben. Dieses Strahlen lässt Brockes drei Worte finden, die der „Schöpfer“ selbst ihm in der Betrachtung der Natur zeigt: „Vergiss mein nicht“. In die physikotheologische Tradition eines Brockes, der Betrachtung als Andachtsform versteht, fügt sich trotz seiner streng rationalen Methodik auch We are still and reflective. Es wird die Verschiedenheit der Sprache Gottes thematisiert – „des Weltbuchs A B C“, das Alphabet von Boyce – deren Inhalt der Mensch zu verstehen sucht. Brockes geht davon aus, seine Beobachtungen der Sprache Gottes nur in lyrischer Form angemessen übersetzen zu können, da die bloße Sprache des Menschen für ein solches Vorhaben nicht genügen kann. Die Poesie erst kann eine sprachmalerische Annäherung an die Schönheit der sinnhaft gestalteten Natur ermöglichen.40Vgl. PETERS: Kunst, 43–51. Auch Boyce wählt bewusst die poetische Versform für seine Botschaft. Seine Grundannahme ist die folgende: „Die Natur ist kein sich selbst genügender Mechanismus, sondern ein dynamisches Zeichensystem; ein beweglicher Spiegel, in dem wir anderes als sie selbst sehen, ein Rätsel“41Ebd., 77.. Dieses Rätsel wirft den Betrachter elementar auf sich selbst zurück: Welche Schwierigkeiten es bereitet, die Formen der Natur zu entziffern – die Metapher der Lesbarkeit wird hier problematisiert. Derart schmerzhaft mit Zusammenhanglosigkeit konfrontiert, hilft dem entziffernden Betrachter das Ornament gleich zweifach: Wo das menschliche Auges nach Regelmäßigkeit sucht, gibt es ihm Muster. Darüber hinaus ist im Fall von We are still and reflective neben der Abstraktion die Ornamentik das künstlerische Mittel der Wahl, um die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Sprache auszuloten:
Oder genauer: jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das »Medium« der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie. Zugleich deutet das Wort von der Magie der Sprache auf ein anderes: auf ihre Unendlichkeit.42BENJAMIN, WALTER: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), in: DERS.: Gesammelte Schriften. Hg. v. TEIFEMANN, ROLF/SCHWEPPENHÄUSER, HERMANN, Bd. II/1, Frankfurt a. M. 1980, 140–157, hier 142f.
Derart mit Sprache befasst, deutet das Kunstwerk von Boyce unwillkürlich und unbedingt über sich hinaus – in dem Moment, wo es Sprache in Form der Buchstaben einbezieht. Gewissermaßen bringt der Künstler Natur im Stadtraum zum Sprechen. Die Form von Naturlyrik, die Boyce mit seiner Materialität hier ausdrückt, ist ebenso statisch, wie sie es nicht ist: Die skulpturale Härte von Beton und Metall, auf das Nötigste, Wesentlichste reduziert – und quasi bevor die Poesie verrosten könnte, eröffnet sich im Zusammenspiel mit der Natürlichkeit der umgebenden Elemente, mit Regen, Unkraut, Laub und Wurzeln, ihre bedeutungstragende Spannung. An diesem Punkt des Verstehens wird der Betrachter auf sich selbst und seine Vergänglichkeit zurückgeworfen. Wo der Lauf der Natur den menschlichen Entwurf durchkreuzt, vollendet sie ihn erst. Es entsteht eine kunstvolle Synthese der Plastik mit der Natur des Stadtraums: Denn eine solche Bodenarbeit würde ohne menschliche Pflege viel schneller von der Natur wieder eingenommen als eine Plastik auf einem Sockel. Die Natur selbst ist quasi ihr Sockel, eine künstliche Symbiose. Das Moos in den Fugen ist wie eine Vorausschau, eine Ahnung, vielleicht auch ein Aufbäumen der Natur, die ihren Raum wieder zurückerobern will. Im Winter scheinen die kahlen Äste in ihren scharfen, dunklen Kanten die leeren Fugen in ihrer Form aufzunehmen. We are still and reflective ist ein 4-Jahreszeiten-Kunstwerk, das sich in seinen Details mit der Natur verändert. Die Formen der Landschaft werden auf die Architektur seiner Arbeit übertragen. Die Natur fügt dem Kunstwerk erst den dreidimensionalen Raum wirklich hinzu: Die integrierten Bäume verleihen der Vertikalität der Bodenarbeit erst ihre Form. So kann der tote Beton wachsen, lebendig bleiben und atmen, alles in ureigenster Langsamkeit im Rhythmus der Natur, wie es die Botschaft „We are still and reflective“ will. Der Rezipient erfährt durch die Entschleunigung von We are still and reflective weniger das, was Petraca als Weg zur Erkenntnis während der Besteigung des Mont Ventoux erlebt43Vgl. dazu PETRARCA, FRANCESCO: Die Besteigung des Mont Ventoux (1335), in: DERS.: Dichtungen, Briefe, Schriften. Auswahl und Einleitung v. HANNS W. EPPELSHEIMER, Frankfurt a. M. 1980, 88–98. – die Erfahrung von Natur, die zur Besinnung auf sich selbst und über die eigenen Grenzen hinaus führt, entspringt hier wohlmöglich mehr dem Effekt des aristotelischen Peripatos eines Umherschreitens in einer philosophischen Wandelhalle. In diesem Sinne wird bei Boyce ein Herumwandern notwendig, das fast an die Idee eines Kreuzgangs erinnert: Den Kopf gesenkt, ins Denken versunken, geneigt wie ein Suchender – als hätte Auguste Rodins Le Penseur sich zum andächtigen Schreiten erhoben. We are still and reflective lässt den Betrachter nach Sinn suchen, nimmt ihn mit auf einen Erkenntnisprozess, hinein in ein geschichtliches Geschehen, das sein vollendetes Werk beinhaltet, ohne jemals „fertig“ zu sein: Denn es ist fortlaufend, dieses Verstehen, das der Künstler dem Rezipienten abverlangt. Dabei füllt stets das tonlose Signal den eigentlich leeren Raum, den der Boden eröffnet. Der Wahrnehmende wird hineingenommen in eine Szene, deren Verstehen in ihm selbst bedingt ist. Begibt der Mensch sich in den Dialog mit der natürlichen Ordnung der Welt, tritt er in Beziehung mit dem Schöpfer und wird selbst zum Zeichen. Es bleibt die Aufgabe des Spuren-Lesens auf dem Weg, das Unsichtbare über das Sichtbare zu erschließen. Der Schöpfer tritt über die Sprache in Beziehung zum Geschöpf in diesem Raum, der natürlich-künstlich geschaffen ist, der die Andacht mitten in die Welt setzt, wie es eigentlich an jedem Flecken Natur möglich wäre.