„IST Kunst Religion?“ Der Satz – eine Frage – ist so normativ und so ausschließlich, dass man beinahe in Panik gerät, wie man denn antworten soll – ob man emphatisch „Nein!“ ausrufen soll, oder mit geschwellter Brust auch „Ja!“ Der Satz, als Frage, ist so kurz, dass man zudem geneigt ist, seine Satzglieder auch zu vertauschen: „Ist RELIGION Kunst?“ Oder, der Betonung unserer Themenstellung entsprechend: „Ist Religion KUNST?“ Oder schließlich „IST Religion Kunst? Das käme dann eben einer Behauptung gleich, die die Frage überhaupt erst ausgelöst haben würde: „Religion ist Kunst.“ Und, im Kommutativgesetz für deutsche Sätze in der ersten Variante: „Kunst ist Religion.“
„Kunst ist Religion.“
„Religion ist Kunst.“
Die beiden schlichten Sätze, meine Damen und Herren, möchte ich mit Ihnen in diesem Festvortrag gemeinsam erörtern, natürlich wissend, dass die meisten von Ihnen diesen Sätzen nicht zustimmen: Kunst ist nicht Religion. Religion ist auch nicht Kunst. Aber die Veranstaltenden haben einen Referenten für diesen Festvortrag aus dem Süden geholt, also aus einem Milieu, wo man kulturell bedingt eher synthetisch denkt, um es freundlich zu formulieren, also von einem Teil Europas, den manche noch immer „Kakanien“ nennen und der vor allem mit dem Barock zu verbinden ist, (wenngleich einem, verglichen mit hier, einem sehr stuck- und bilderreichen Barock), und der eben auch das verbindende Glied zu diesem Kirchenraum hier ist, dieser dreischiffigen, kreuzgratgewölbten „Basilika“ (kunsthistorisch, nicht kirchenrechtlich gesprochen) mit zentraler, oktogonaler Kuppel und ihrer aufgesetzten Laterne. 60 Jahre nach dem Abschluss des „Westfälischen Friedens“ hier in dieser sogenannten Friedensstadt Münster begonnen, bildet die hiesige Dominikanerkirche – nach Entwürfen des Architekten Lambert Friedrich von Corfey als Teil einer Klosteranlage erbaut – „ein herausragendes Beispiel des barocken römisch-französischen Hochstils“, (so lese ich es auf der Homepage, aber später auch in allen beschreibenden Texten zu diesem Raum, aber vor allem zu diesem Kunstwerk, das seit 2017 sich hier befindet).
Schmale, querhausartige Seitenräume begleiten die Kuppel. Dieser Raum hat eine Längsausrichtung nach Osten hin, am Ende ist seltsamerweise eine Wand, hinter der sich ein „entweihter Hochaltar“ befindet (wie das sprachlich so merkwürdig im begleitenden Folder ausgedrückt wurde).
Ich stocke beim Wort „entweiht…“
Ich weiß nicht, ob es wieder eine jener feinen Sprachdifferenzen zwischen der deutschen und österreichischen Sprache ist – „entweiht“ würde man in Österreich zu einem profanierten Hochaltar jedenfalls nicht sagen. „Entweihung“ hat in meiner Sprachverwendung jedenfalls den Charakter des Frevels, auch der Gewalt.
Aber vielleicht trifft die vielleicht falsche Bezeichnung doch den Kern der Sache, um die sich auseinanderzusetzen wir heute auch zusammengekommen sind. Denn „Entweihung“ löst ja einfach Fragen aus: „WER hat hier WEN oder WAS entweiht?“
Zwischen der kunsthistorischen und theologischen Begrifflichkeit von „Entweihung“ oder „Weihe“ gibt es keine so klare Deckungsgleichheit, wie wir vielleicht meinen. Das gilt wohl auch für das Wort: „Kirche“. Ist dieser Raum jetzt eine Dominikanerkirche, wo doch seit 1811 keine Dominikaner mehr da sind? Bleibt sie dennoch die „Dominikanerkirche Münster“ (also eine Ortsbezeichnung) oder ist sie schlicht eine Filiale der Kunsthalle Münster mit einem neuerdings großen Kunstwerk? Die derzeitige Leiterin der Kunsthalle und damit rechtlich derzeit auch Hausherrin, Merle Radtke, hat da jedenfalls einen eher nüchternen Kirchenbegriff, wenn sie Gerhard Richters Kunstwerk auf der Webseite einführt:
„Das Werk in Münster ist neben dem Fenster im Kölner Dom (2007) Richters zweite Arbeit, die in einer Kirche realisiert wurde – in diesem Fall einer profanierten.“1Radtke, Merle: Gerhard Richter, Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel, 2018, 51°57’43.236″N 7°37’50.7″E (https://www.kunsthallemuenster.de/de/sammlung/gerhard-richter-zwei-graue-doppelspiegel-fur-ein-p/, abgerufen am: 27.10.2023).
Das Wort „Kirche“ scheint zwar selbst bei einem Künstler wie Gerhard Richter hervorhebenswert zu sein, wenngleich nicht ganz klar zum Ausdruck gebracht ist, wer hier wen adelt; jedenfalls geht es, bezogen auf unser Thema an diesem Abend, um „diesen Fall“: eine profanierte Kirche. Auch wenn diese „Kirche“ diesen entsakralisierenden Akt bereits zwei Mal hinter sich hat – 1811 nach den „Wirren der Säkularisation“, also nur rund 80 Jahre nach ihrer Fertigstellung, und 2017 – auf Betreiben der Stadt Münster, um ausgerechnet dieses Kunstwerk hierher zu bekommen –; die Bezeichnung „Kirche“ ist dann doch geblieben. Frage: Wer steht hinter einer Profanierung, wer ordnet sie an? Die Stadt? Napoleon? Der Bischof? Die schwindende Gemeinde? Die fehlenden Erhaltungskosten oder die Konzepte für einen neuen Besucher*innenboom für ein attraktiveres Heiligtum als es das bisherige war?
Für letztere Sichtweise hat man jedenfalls die Vorzüge zu benennen, denn seine Architektur hat dann „ein neues Heiligtum“ zu bündeln: Der Raum hier hat nämlich auch den Charakter eines Zentralraums. Überall finden wir zudem den Goldenen Schnitt, in den Proportionen der Grundriss- und Höhengliederung, in den einzelnen Jochen. Vollendete Sakral-Architektur. Aber vielleicht ist das doch zu viel der architektonisch-sakralen Würdigung? In der Beschlussvorlage für die Stadt Münster mit dem Betreff: „Dauerhafte Installation eines Kunstwerkes von Gerhard Richter in der Dominikanerkirche“ vom 27.9.2017, also jenem Dokument, das zur Annahme dieses Kunstwerks und der damit einhergehenden Verpflichtung geführt hat, diesen Raum nicht nur zur Verfügung zu stellen, sondern auch entsprechend zu adaptieren, lese ich nach der räumlich-architektonischen Würdigung der Dominikanerkirche nämlich einen für mich doch ziemlich verräterischen Satz:
„Trotz der basilikalen Gliederung wirkt der Innenraum dadurch [gemeint war die reine Architektur ohne Bilder, der goldene Schnitt, die entsprechenden Proportionen] nicht kirchlich, sondern erinnert eher an Renaissance-Bauten wie die Bibliotheca Laurenziana in Florenz. Die räumliche Komposition ist bei aller Schlichtheit der Architekturelemente von besonderer Ausgewogenheit und wirkt zugleich bewegt und anregend. Mit diesen Merkmalen ist die Dominikanerkirche prädestiniert für die Aufnahme des Richterschen Kunstwerks.“2Dauerhafte Installation eines Kunstwerkes von Gerhard Richter in der Dominikanerkirche (Öffentliche Beschlussvorlage der Stadt Münster, Vorlagen-Nr.: V/0812/2017), 5.
Aufnahme! Die Intention dieser Architektur, so liest man, hat Jahrhunderte darauf gewartet, ein derartiges Kunstwerk aufzunehmen! Rückfrage an den Autor der Beschlussvorlage: Was wirkt an einer Kirche eigentlich kirchlich – und was nicht. Und man hätte auch mehr von der dem Künstler unterstellten Motivationspsychologie gewusst:
„An einem vormals sakralen Ort naturwissenschaftliche Evidenz anzusiedeln, vermag für Gerhard Richter einen besonderen Anreiz darstellen.“3Ebd., 3.
Von Gerhard Richter, von dem höchst unterschiedliche Aussagen zu Religion und Kirche stammen, sind eigentlich in den letzten Jahrzehnten eher kirchensympathische Äußerungen berichtet worden. Sogar sein „letztes durchnummeriertes Werk“, ein Glasfensterentwurf für die Benediktinerabtei Tholey im Saarland ging sozusagen „an die Kirche“.
Anders also die Beschlussvorlage. Liest man derartige Begründungen, so ist es umgekehrt kein Wunder, dass dieses Kunstwerk nach seiner Werkvorstellung auch scharf kritisiert wurde: „Die Wissenschaft will über die Kirche triumphieren.“4Tück, Jan Heiner: „Die Wissenschaft will über die Kirche triumphieren. Die Dominikanerkirche in Münster soll ein Museum werden. Doch ein Geschenk von Maler Gerhard Richter sorgt für Streit“, in: NZZ, 29.12.2017. So war es vorab in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu lesen. Das klingt nach Kampfrhetorik, nach Sieg und Niederlage, Triumph auf der einen und Schmach auf der anderen Seite.
So ist es angemessen, ja fast naheliegend, die Frage der Beerbung öffentlich zu thematisieren, jener von Religion durch Kunst nämlich, die hier freilich auch jener von religiösen Wahrheiten und naturwissenschaftlichen Wahrheiten im Schlepptau hat.
Es zeigen sich offensichtliche Gräben – jene von Naturwissenschaft und Glaube, von Wissenschaftsevidenz und theologischer Reflexion, von Kunst und Religion, von Bild und Beweis. Allein diese kleinen Beobachtungen zeigen, warum eine öffentliche Auseinandersetzung dazu eigentlich notwendig ist.
„IST Kunst Religion?“ „IST Religion Kunst?“
Im Plural gesprochen sind die gespiegelten Sätze freilich auch deshalb, weil der eigentliche Anlass für diese Veranstaltung nicht Gerhard Richters Pendel ist, sondern das 25-jährige Bestehen der ACHRIBI, also der „Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik“ ist. Die nach den vielen Jahren der Leitung von Prof. Reinhard Hoeps, der von 1993 bis 2021 Professor für systematische Theologie an der hiesigen Katholisch-Theologischen Fakultät der Welt war, nun in der Leitung von Prof. Norbert Köster liegt. Zudem ist es auch das fünfjährige Bestehen des „Vereins für Bildtheologie“, der sich nach der Emeritierung von Hoeps aus dem Kreis ehemals Studierender herausgebildet hat, das wir heute begehen.
Und doch besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem berühmten Kunstwerk und den beiden Jubiläen, auch wenn beide in ihrer Geschichte bislang nichts, rein gar nichts, zu tun hatten. Diesen inneren Zusammenhang möchte ich über diesen Festvortrag legen.
Denn DASS es auf einer Universität eine institutionelle Behauptung für die Bilderfrage gibt, ist die große Errungenschaft in Münster. Die ACHRIBI erforscht nicht nur das kulturelle Erbe des Christentums (aktuell mit einem besonders großen Projekt), sondern hat auch die Gegenwartsdebatte im Blick – um den Status von Kunst, von Religion im Modus des Visuellen. Sie hat dabei in der reflexiven Betrachtung fundiertes Wissen von Religion und Kunst einzubringen. Das ist, anders formuliert, ihre Aufgabe, ihr „mission statement“. Eine derartig geartete Bildtheologie wird auch noch dann von großer Relevanz sein, wenn Kirchen im großen Stil profaniert werden. Sie ist also auch in einer „nachchristlichen Epoche“ systemrelevanter für eine nachkommende Generation, der das Wissen um das Christentum schlicht abhanden gekommen ist.
Und es ist auch angemessen, nein, verführerisch, trotz der akademischen Architektur dieses Abendprogramms, mit einer kleinen Anekdote zu beginnen: Ich erinnere mich nämlich noch, als die ACHRIBI gegründet wurde. Ich nahm diese damals aus dem – verglichen mit Graz – gar nicht so fernen Köln wahr, wo ich ein kleines Assistentenzimmer in der Clarenbachstraße 4 nutzen durfte – oder sollte –, das aber für mich so unvorstellbar hässlich war, dass ich es gar nicht wirklich bezog, wie mein damaliger Chef, Prof. Alex Stock, immer wieder auch anmerkte. Doch dort hatte eben dieser Alex Stock kurze Zeit vor der Gründung der ACHRIBI eine „Bildtheologische Arbeitsstelle der Universität zu Köln“ gegründet. Eine Auseinandersetzung mit Kunst, Bild und Theologie zum Gegenstand einer institutionellen Absicherung im Range einer Universität werden zu lassen war damals neu im universitären Sektor, nicht nur in Köln oder Münster, sondern im deutschsprachigen Raum überhaupt. Bilder hatte die Theologie, wenn überhaupt, bis dahin nur im Bereich der Religionspädagogik wahrgenommen und akzeptiert. Die systematische Theologie, mehr aber noch die Dogmatik glaubte jedenfalls eindeutig ohne Bilder auszukommen. Von einem „Iconic Turn“ hatte die Theologie damals noch sehr wenig wahrgenommen.
Die „Bildtheologische Arbeitsstelle an der Universität zu Köln“ wurde nach dem Tod von Alex Stock, der bis zum Lebensende an seinem Mammutprojekt einer 11-bändigen „Poetischen Dogmatik“ arbeitete, im Jahre 2016 mangels fehlender Nachfolge aufgelöst; die in jahrzehntelanger Arbeit gesammelten Aufsätze kamen entweder hierher nach Münster oder, wie auch die gesamte Diathek, in das von mir gegründete Museum für Gegenwart, Kunst und Religion nach Graz. Sie, die nicht mehr existiert, und die vor 25 Jahren gegründete „Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik“ waren damals junge, mutige Pflänzchen im theologischen Wissenschaftsbetrieb, wobei freilich nur die zweite, von Reinhard Hoeps gegründete, wirkliche Wachstumspotentiale hatte. Eine gemeinsame wissenschaftliche Reihe: „IKON. Bild+Theologie“ im damaligen Ferdinand Schoeningh-Verlag, wurde gegründet; viele Bände sind in dieser Reihe erschienen.
Jedenfalls war damals im „inner circle“ das Gefühl des Neuen, das die Theologie im deutschsprachigen Raum mit einem neuen Akzent versehen wollte. Und, auch das war klar: die ACHRIBI war zwar in Münster, aber deren Begründer war zudem bis in die tiefsten Adern seiner Existenz mit Köln verbunden, das zeigte nicht nur seine Biografie, sondern über all die Jahre auch die Anstecknadel mit dem Kölner Dom an seinem Revers. Und die „letzte“ bzw. „nächste“ Publikation von Hoeps, schon jahrzehntelang angekündigt, handelt eben vom Kölner Dom.
Bildtheologie – das war also das Codewort dieser Art von Forschung hier in Münster, damals in Köln. Bildtheologie – das sind vor allem auch Bildkonflikte. Behauptungen. Ansprüche. Auch nüchterne Beobachtungen, wie etwa die Entstehung der „Kunstreligion“, die am Beginn des 19. Jahrhunderts grundgelegt wurde, stand im Fokus der Forschungen und damit auch der Anspruch von Beerbung der Religion durch Kunst.
Neben den vielen Akzenten zur Forschung um die Bildtheologie ist das vierbändige „Handbuch der Bildtheologie“, das Reinhard Hoeps in einem Forschungszeitraum von nahezu 20 Jahren mit einer internationalen Forscherinnen- und Forschergruppe konzipiert und herausgegeben hat, wohl der offensichtlichste Ertrag dieser, an der Katholisch Theologischen Fakultät der Universität Münster angesiedelten Arbeitsstelle. Gerade heute sei dies erwähnt. Der erste Band lautet nämlich „Bildkonflikte“. Der vierte Band dieses „Handbuchs der Bildtheologie“ lautet: „Kunst und Religion“. Dazwischen stehen die „Funktionen des Bildes im Christentum“ (der zweite Band) und, „Zwischen Zeichen und Präsenz“ der dritte Band. Von daher ergibt sich auch, dass die Themenstellung des vierten Bandes – „Kunst und Religion“ – nicht einfach eine Aufzählung zweier Begriffe meint, sondern dass damit zum Ausdruck kommt, dass beide Bereiche etwas Eigenständiges sind, vielleicht sogar Entgegengesetztes markieren. Damit sind wir – klarerweise – beim Thema des heutigen festlichen Abends.
„IST Kunst Religion?“
Noch einmal möchte ich mit Ihnen, bevor wir uns diesem Raum hier widmen, in die Clarenbachstraße nach Köln mit ihrem für mich so hässlichen universitären Institutsgebäude zurückkehren: Denn auch wenn ich jenes Assistentenzimmerchen so traumatisch in Erinnerung habe, irgendwann und sicher auch mit einer Karriereabsicht muss ich da ja auch hingekommen sein. Damit löse ich den eigentlichen Teil meines anekdotischen Anfangs ein. Als damaliger Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und in der Folge als einer des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) wollte ich für meine Dissertation eben zu jenem Professor, den ich für meine Themenstellung für den weltbesten hielt – und das war eben der Begründer dieser „Bildtheologie“, Alex Stock. Eben war damals, 1991, das Buch „Zwischen Tempel und Museum. Theologische Kunstkritik. Positionen der Moderne“ erschienen. Das war in etwa auch mein Diplomarbeitsthema in Tübingen gewesen; doch obwohl ich mich von den besten Professoren betreut gefühlt hatte, von Stock hatte ich bis dahin noch nie gehört. So war es wie ein Sprung ins kalte Wasser, als ich beschlossen hatte: Zu diesem Mann musst du hin. Der Professor in Köln wurde vom Auswärtigen Amt informiert, dass ein Stipendiat aus Österreich ankommen würde. Und schließlich: das erste Gespräch. Clarenbachstraße. Der Herr war sehr freundlich. Ich legte los. Erklären des Grundkonzepts. Die Stipendiengeber verlangten auch in der Folge regelmäßige Treffen, Erträge, Ziele. (Das war damals neu, heute hat das jeder im kleinen Finger.) Kunst und Religion also. In Graz hatten wir bei Gerhard Larcher viel Nietzsche gemacht. Ein Kapitel musste also lauten: „Gott ist tot.“ Eines: „Wir brauchen die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen.“ Dann natürlich Hegels Ästhetik: Und sein proklamiertes Ende der Kunst. Das ja ein Fortschreiten der Geistigkeit beschreiben wollte. Vor allem die Reformation habe „das Bedürfnis innerer Geistigkeit“ mit sich gebracht, infolgedessen die Kunst „aufgehört“ hat, „das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.“
Und dann ein entscheidender Satz auch für unsere Fragestellungen heute:
„Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.“
Schnitt.
Alex Stock, der freundliche Herr, der vom Auswärtigen Amt über seinen neuen Stipendiaten informiert war, – der erste übrigens! (Denn die Katholische Kirche hatte ihn nicht anerkannt, wie er jedes Semester am Sternchen im Vorlesungsverzeichnis erinnert wurde) – saß mir gegenüber. Er zögerte. Und lächelnd fragte er: „Was machen Sie, wenn doch jemand sein Knie beugt?“ Und dann setzte er auch noch nach: „Was machen Sie, wenn jemand sagt, Gott ist nicht tot?“
Das saß.
Von daher habe ich aufgehört, absoluten Sätzen zu trauen, ob sie von Nietzsche, Hegel oder Richter stammen, dem ja auch als damals 31-Jährigen das Zitat nachgesagt wird: „Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Philosophen auf der Welt.“
Mit einem Satz hatte Stock damals die entstehende Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, deren Spätfolgen wir auch in diesem Raum beobachten, weggewischt und für womöglich gar nicht gültig erklärt.
Dieses erste Gespräch um meine damalige Dissertation zählt so gesehen zu den lehrreichsten meines Lebens. Bewusst werfe ich diese Anekdote in diesen Raum um die Debatte über Gerhard Richters Pendel. Denn sie baut sich ja in dieser Stunde um die beiden Sätze:
„Kunst ist Religion.“
„Religion ist Kunst.“
Denn um Gerhard Richters Kunst ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder heftig die Debatte um die Substitution – oder die Beerbung – der Religion durch Kunst entbrannt. Das hat sicher mit dem großen Auftragswerk für das südliche Querhausfenster für den Kölner Dom, fertiggestellt im Jahre 2007, zu tun, welches damals enorme Debatten im Feuilleton ausgelöst hatte. Der in Dresden lebende Kulturphilosoph Wolfgang Ullrich hat in seinem Buch „An die Kunst glauben“ (2011) die damals öffentliche Diskussion als „Unvereinbarkeit zweier mächtiger Lager, der Religion und der sog. ‚Kunstreligion‘“ beschrieben.5Ullrich, Wolfgang: An die Kunst glauben, Berlin 2011, 15–29.
Zu dieser damals überproportional geführten Debatte hat auch der damalige Kardinal beigetragen, der über dieses Fenster abwertend gesagt hatte, es könnte auch in einer Moschee eingebaut sein. Das traf überhaupt nicht den Kern der Sache, wo es eigentlich um die Frage ging, ob und wie ein an sich inhaltsbefreiter Entwurf des weltweit teuersten Künstlers Gegenstand eines Kirchenfensters werden kann, noch dazu an einem derart berühmten Ort. Versucht man aber, dem Argument des Kardinals, (der übrigens Alex Stock so nachdrücklich verfolgt hatte,) irgendetwas Positives abzugewinnen, dann stand ja die eigentliche Erwartung im Raum: Ein Kunstwerk im so prominenten Dom sollte etwas vom christlichen Narrativ erzählen. Das hatte auch das Domkapitel ursprünglich gewollt, als man den Auftrag gegeben hatte, ein Fenster mit den „Märtyrern des 20. Jahrhunderts“ gestalten zu lassen. Doch Gerhard Richter, der bis heute in der Weltrangliste auf Platz 1 der weltweiten teuersten Künstler und gleichzeitig der weltweit berühmteste Kölner Bürger – er lebt seit 1983 dort –, der dafür gefragt worden war, notierte 2006 bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Fensters:
„Anfang 2002 legte mir die Dombaumeisterin nahe, Entwürfe für die Glasgestaltung des Südfensters zu machen. Vorgabe war die Darstellung von 6 zeitgemäßen Märtyrern. Ich war natürlich sehr beeindruckt von diesem ehrenvollen Antrag, musste aber sehr bald feststellen, dass ich dieser Aufgabe überhaupt nicht gewachsen bin.“6Richter, Gerhard: Notizen zur Pressekonferenz, 28. Juli 2006 (https://gerhard-richter.com/de/chronology, abgerufen am: 27.10.2023).
„Nicht gewachsen sein…“
„Wie kann das sein“, fragt die diesbezüglich wohl anerkannteste Autorin, die in Köln in den letzten vier Jahrzehnten immer am Kern des eigentlichen Kunst-Kirche-Geschehens stand, nämlich Katharina Winnekes,
„wie kann das sein bei einem Maler, der parallel zu seinen abstrakten Bildern immer wieder realistisch arbeitet und Foto-Bilder macht, Fotos übermalt, sie als Vorlagen benutzte, sie auf Leinwände projiziert und dann in Malerei umsetzt? Wie also ist es möglich, dass dieser Maler sich außerstande sieht, einen Entwurf mit Bildern zeitgenössischer Märtyrer vorzulegen?“7Winnekes, Katharina: Drei Maler. Drei Sichtweisen. Drei Wege. Gerhard Richter – Markus Lüpertz – Joseph Marioni, in: kunst und kirche 2/2014, 77. Jg, Wien 2014, 38–43, hier 38.
Winnekes plädiert für tiefer liegende Hindernisse – und zwar unabhängig von den individuellen Bedenken des Malers – die dabei in Betracht zu ziehen sind. Sie weiß als ehemalige Kuratorin in Kolumba wie kaum eine andere um die Tradition der Märtyrer und Märtyrerinnen Bescheid:
„Lebende Menschen werden gerädert, geviertelt, aufgespießt, auf dem Rost gebraten, man zieht ihnen die Gedärme aus dem Leib. Die Phantasie zum Ersinnen solcher Grausamkeiten erscheint unbegrenzt und die Faszination dieser Gräueltaten reicht bis in aktuelle Filme, leider auch in die Lebenswirklichkeit vieler Menschen.“[re]Ebd. 40.[/ref]
Man hätte auch Fotos von so manchen Märtyrern des 20. Jahrhunderts zur Verfügung gehabt.
In einem Zeitalter der totalen Reizüberflutung durch mediale Bilder, das die reale Gewalt sehr schnell als abgenutzt und im schlimmsten Sinne bedeutungslos erscheinen lässt, sagte Gerhard Richter zu diesem Auftrag wohlweislich: „Nein!“ Stattdessen setzte er das Fenster für das Südquerhaus des gotischen Doms wie schon erwähnt aus verschiedenfarbigen Quadraten zusammen. Dabei übernimmt ein Zufallsgenerator die Verteilung der 11.263 mundgeblasenen Echt-Antikglas-Scheiben in 72 ausgewählten Farbtönen aus einer Skala von achthundert möglichen. Die Wurzeln des Verfahrens liegen in Richters sogenannten „Rasterbildern“. Als er 1966 im Zuge der Pop Art Farbmusterkarten abmalte und in Farbtafeln zusammenstellte, grenzte er sich von Malern wie Josef Albers ab. Die Interaktion von Farben, die Albers von 1950 bis zu seinem Tod 1976 in Hunderten von Varianten mit dem Kompositionsschema von drei oder vier ineinander liegenden Quadraten untersuchte, interessierte ihn nicht.
Folgerichtig führte Richter in seinen Farbtafeln 1971 das Zufallsprinzip zur Anordnung der Farben ein; 1974 ließ er das trennende weiße Gitter zwischen den mittlerweile 4.096 Feldern fallen. 2007 kehrte er mit mittlerweile 4.900 Farben erneut zu den Rasterkompositionen mit zufälliger Farbverteilung zurück. Im gleichen Jahr beendete der Maler das 2006 beauftragte Kölner Domfenster.
In Richters künstlerischem Werdegang steht es für seinen vielleicht kompromisslosesten Weg, die Malerei weitestgehend von ihrem Urheber und von möglichen Inhalten zu befreien.
Halten wir also fest: Die totale Zurücknahme der Urheberschaft und die vollkommene Inhaltsbefreitheit war die Basis für das berühmte Kölner Domfenster. Noch einmal Katharina Winnekes:
„Per se transportiert das Fenster nichts als eben diese Botschaft. Oder doch? Wird das Fenster gerade durch die Zurücknahme der individuellen Autorschaft im umfassendsten Sinne transparent für etwas Wesentliches? Für die Malerei des einfallenden Lichtes?“8Ebd.
Das Kölner Domfenster von Gerhard Richter ist schöner und einleuchtender, betörender und verzaubernder als sein Autor oder sein Konzept der Auslöschung von Autorschaft oder Inhalt es jemals gewesen sein wird. Und gleichzeitig ist es auch eine Bestätigung des Künstlers, der auf die absolute Offenheit der Bedeutung dieses Fensters hingewiesen hat: „Es sollte nur ein strahlend schönes Fenster werden, so gut und schön und vieldeutig wie es mir und heute eben möglich war.“9Richter, Gerhard: Text für den Katalog „Beuys zu Ehren 1986“. In: Elger, Dietmar / Obrist, Hans Ulrich (Hg.): Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews und Briefe, Köln 2008, 538.
Die sechs Millionen an Besucherinnen und Besuchern, die jährlich den Kölner Dom besuchen, sehen wahrscheinlich eher durchgepixelte Scheiben. Sie spiegeln so auch die Farbtöne wider, die im Dom vorhanden sind. Oder sie bauen sich ihre jeweiligen Bildgeschichten zusammen – insgesamt waren das also bereits mehr als 90 Millionen Menschen, die diese Fenster bewusst oder unbewusst wahrgenommen haben. (Hier ist weniger Kunst Religion, sondern Religion Kunst.)
Man könnte an dieser Stelle viele wunderbare Beschreibungen dieses Fensters anführen. Die Stimme von Klaus Müller möchte ich allerdings hier besonders in Erinnerung rufen, der 25 Jahre lang hier Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie lehrte.
Müller outet sich in einem Artikel, der den Titel trägt: „Kunst und Religion. Über den Fall einer gewollt unglücklichen Begegnung“10Müller, Klaus: Kunst und Religion. Über den Fall einer gewollt unglücklichen Begegnung, in: Lebendige Seelsorge, 69. Jahrgang 1/2018, 64–68. (damit ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Raum gemeint!) – ausdrücklich als Fan von Gerhard Richter. Auch mit vielen seiner Aussagen, besonders aber seinem viel diskutierten Fenster im Kölner Dom. Für die 11.263 leuchtenden Farbflächen wagt Müller – der Inhaltsbefreitheit seines Schöpfers zum Trotz – eine eindrucksvolle religiöse Deutung:
„Wenn jemand mit geistlichen Augen auf das Fenster schaut, könnte sie oder er sich denken: Ich habe auch mit dem, was aus mir geworden ist, worum ich gekämpft und wonach ich gestrebt habe, meinem Leben seine besondere Färbung gegeben. Jede und jeder anders, selbst dort noch, wo sie aufs Erste gesehen mehr oder weniger gleich aussehen. Und wenn Glaubende das zusammentragen und -fügen, was jede und jeder für sich ist, dann wird es zusammenklingen und wird es Zeugnis geben, dass es in der Welt aller Finsternis zum Trotz auch Lichtes gibt und manche Stunde strahlenden Glanzes.“
Um dann ekklesiologisch zu resümieren:
„Wäre das nicht auch ein mögliches Bild von Kirche, durchaus das einer ecclesia triumphans, eines strahlenden neuen Jerusalem, aber eben das Bild von einer egalitären, menschlich gewendet: geschwisterlichen Gottesstadt, in der das Nebeneinander und Miteinander wichtig ist und nicht das Repräsentieren und Dominieren? Zu solchen Gedanken hätte ein Richter-Werk den Anstoß geben können.“11Ebd., 66.
Der letzte Satz bezieht sich freilich auf Richters Kunstwerk hier in diesem Raum. Um dann gleich fortzufahren: „Hätte, hätte, Fahrradkette…“12Ebd.
Das tun wir hier freilich nicht, zumindest nicht jetzt. Denn damit kommen wir endlich zum Pendel in diesem Raum. Ist es eine glückliche oder „gewollt unglückliche Begegnung von Kunst und Religion“? Wahrscheinlich hängen wohl fast alle, die diesen „neuen“ Raum erstmals betreten, der ersten Alternative an. Wie schön dieser Raum doch ist – wie gemacht für dieses Kunstwerk.
Man erinnert sich dabei freilich auch an einen Konflikt mit der offiziellen Kirche über das bislang geltende „Ptolemäische Weltbild“, an Johannes Kopernikus und dessen Proklamierung eines „heliozentrischen Weltbilds“, fern vielleicht auch an Giordano Bruno, an Johannes Kepler, an Isaac Newton. An Galileo Galilei, der nach einem Prozess mit der Inquisition 1633 seine Thesen widerrief und nach dem Prozess gesagt haben soll: „Und sie bewegt sich doch…“ Nicht jede Geschichte hat man vielleicht sofort abrufbereit, aber eines blieb doch: Kirche und neuzeitliche Astronomie, Kirche und Wissenschaft lagen in jener Zeit in zentralen Punkten im Streit. Freilich, mit der Erdrotation oder der Kugelgestalt der Erde haben nicht all diese Namen und Geschichten zu tun, auch wenn der Künstler Gerhard Richter bei einem öffentlichen Gespräch zu diesem Kunstwerk gesagt haben soll, dass es gut sei, dass das Foucaultsche Pendel nun in einer Kirche installiert werde, das symbolisiere doch „einen kleinen Sieg der Naturwissenschaft über die Kirche“. Müller nannte diese Äußerung im Gegenzug „unterkomplex“.
Das Zitat trifft freilich gar nicht Gerhard Richters Kunstansatz, der vielmehr von einem höchst komplexen Vernetzungsdenken von Naturwissenschaft, Kunst, aber auch Theologie zeugt.
Dieses so genannte Foucault’sche Pendel ist im Ansatz Richters ja eigentlich ein „Zitat“: Nämlich jenes Experiments, das der französische Physiker Léon Foucault 1851 im Pariser Panthéon öffentlich durchführte: Es bewies damit bekanntlich einer breiten Öffentlichkeit die nicht unmittelbar wahrnehmbare, jedoch alles beeinflussende Erdrotation: Das Pendel hier besteht aus einer Metallkugel mit einem Durchmesser von 22 Zentimetern, die Kugel ist fast 50 Kilogramm schwer. Das Seil, an dem die Kugel hängt, ist in der Vierungskuppel befestigt. Für die ununterbrochene Pendelbewegung der Kugel sorgt ein elektromagnetischer Antrieb unterhalb der kreisrunden Bodenplatte: Das ist aber schon vielmehr „Richter“, denn er spielt mit der eigentlichen Unmöglichkeit eines perpetuum mobile. So wird dieses Pendel auch zum Teil einer „kleinen Wunderkammer“. Wenn man länger bleibt, sieht man, wie das Pendel immer neue Skalen imaginär antippt. Da die Schwerkraft nur senkrecht wirkt, wird klar, dass sich nicht das Pendel bewegt, sondern der Boden. Das Verhältnis des Pendels zur sich drehenden Erdoberfläche lässt sich an der 360-Grad-Winkelmaßskalierung der Bodenplatte ablesen.
Man kann sich natürlich fragen, warum der Künstler Gerhard Richter, den wir ja primär als Maler kennen, eines der bekanntesten Experimente der Wissenschaftsgeschichte in sein eigenes Werk integriert. Der Titel dieses Kunstwerks heißt allerdings nicht „Das Foucault’sche Pendel von Gerhard Richter“, sondern „Zwei Graue Doppelspiegel für ein Pendel, 2018, 51°57’43.236″N 7°37’50.7″E“
Ganz wesentlich dabei ist die „zeitliche und räumliche Irritation“, ja die Erfahrung des „Schwindels“13Hoppe-Sailer, Richard: Experiment und ästhetische Erfahrung. Überlegungen zu Gerhard Richters Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel in der Dominikanerkirche zu Münster, 2018, 16., wie Richard Hoppe-Sailer in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz zu diesem Werk erläutert hat:
„Die Visualisierung der Erdrotation mittels des Foucaultschen Pendels macht uns unseren instabilen Stand auf diesem Planten deutlich. Die Erfahrung des Schwindels wird so zu einem sensuellen Äquivalent unserer mehrfach bewegten Existenz im All.“14Ebd.
Die eigentlichen Subjekte des TITELS sind also vier hochrechteckige graue Glasplatten, je 6 Meter hoch, die Pendel und Bodenplatte flankieren. Sie hängen paarweise an den Wänden des Querhauses der Dominikanerkirche. Dieses Material, diese Farbgebung durch Grau kennen wir in Richters Œuvre seit den späten 1960er Jahren. Zu diesem Grau formulierte Richter nämlich 1975:
„Grau. Es hat schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus […]. Und es ist wie keine andere Farbe geeignet, ‚nichts‘ zu veranschaulichen. Grau ist für mich die willkommene und einzig mögliche Entsprechung zu Indifferenz, Aussageverweigerung, Meinungslosigkeit, Gestaltlosigkeit.“15Richter, Gerhard, „Aus einem Brief an Edy de Wilde, 23.2.1975“. In: Elger, Dietmar / Obrist, Hans Ulrich (Hg.): Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews und Briefe, Köln 2008, 92.
In eben diesen „grauen Doppelspiegeln“ bildet das Kunstwerk dieses Raums somit eine Brücke zum Kölner Domfenster, auch wenn dort alles bunt ist und hier nur grau.
Gerhard Richter interessiert in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen seiner Malerei die „visuelle Wahrnehmung als solche“. Was sind ihre Bedingungen? Ihre Möglichkeiten? Wie ist das Verhältnis von Malerei und Wirklichkeit?
Um diesem nachzugehen, „hat er sämtliche Varianten der malerischen Subjektkritik mit Rekurs auf die jeweils avanciertesten Techniken durchgespielt“.16Merle, a.a.O.
Alles, was zwischen den Doppelspiegeln in der Dominikanerkirche passiert, wird unweigerlich ins Werk einbezogen: Wir spiegeln uns, wir werden dabei sowohl mit den Möglichkeiten wie auch der Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung konfrontiert. Wir werden dabei der Erfahrung des Schwindels gewahr. Alles ist eigentlich unscharf. Die Installation macht etwas sinnlich erfahrbar, das sich unserer begrenzten Wahrnehmung entzieht, zugleich befragt sie unser Verlangen zu sehen und zu verstehen. Und sie lehrt uns, dass wir uns zu relativieren haben in unserem Wahrheitsanspruch – als Vertreter der Naturwissenschaft, der Kunst oder auch der Theologie. Richter ist gerade darin sehr deutlich. Es meint das Museum, den naturwissenschaftlichen Beweis, auch den liturgischen Ort.
Wir finden uns in den grauen Doppelspiegeln des Künstlers Gerhard Richter aber nicht nur als verschwimmende Subjekte wieder, sondern auch in der Geschichte ihres Raums, das Richter hier auch als „Zitat“ verwendet. Diese Geschichte war in ihrer intentionalen Architektur für eine Kirche bestimmt. Das Pendel hat den bisherigen Altar wegräumen lassen – auch diese „Erinnerung“ ist ein Zitat in der Installation. Allerdings: Er war gar nicht immer da: Einer ist noch hinter der Wand, ich habe ihn schon Beginn dieses Vortrags als „entweiht“ bezeichnet, er kam erst 1901 hierher; warum er hinter einer Wand verborgen ist, ist ungeklärt, doch Richter wollte ihn auch so stehen lassen, er wollte keinen „white cube“ für dieses Werk. Dort, wo „jetzt das Pendel kratzt“17Müller, a.a.O., wie Klaus Müller, der 18 Jahre lang die Funktion des Kirchenrektors dieser ehemaligen Kirche innehatte – nach dem Dogmatiker Peter Hünermann, dem Exegeten Karl Kertelge und dem Kirchenhistoriker Arnold Angenendt – in seiner damaligen Wut über den Vorgang der Profanierung schrieb, war seit 1974 der Zelebrationsaltar positioniert, also der Ort, „an dem Christen das Leidensgedächtnis Jesu begehen und das Geheimnis ihres Glaubens feiern“18Tück, a.a.O.. Die nach den Bomben des 2. Weltkriegs zur Ruine entstellte und ab 1961 bis 1974 wieder aufgebaute Kirche wurde der Katholisch-Theologischen Fakultät als Universitätskirche zur Verfügung gestellt. In dieser Zeit hatte sich auch die Auffassung über den Altar geändert. Erst seit damals ist er unter die Kuppel gewandert. „Entweiht“ hat den Hochaltar also auch die Geschichte der katholischen Liturgie selbst, um genau zu sein.
Zeitlich bemessen sind das 43 Jahre – das ist, gemessen an der 290-jährigen Geschichte des Raums zwar ein nicht überlanger, aber dennoch ein bedeutender Teil der Biografie dieses Raums.
Ich bin gespannt, ob in 40 Jahren das Richter’sche Pendel noch so schwingen wird wie heute. Und ob die Attraktiviät des neuen Heiligtums so lange währen wird. (Am Ende werden auch hier die laufenden Kosten ausschlaggebend sein, vermute ich.)
Diese Aussicht fügt sich jedenfalls zum Schluss unserer Überlegungen.
Bildtheologie, wie sie an der Universität Münster gelehrt und betrieben wird, stellt die Fragen, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden müssen, auch öffentlich. Ein Ort wie dieser ist Teil der Geschichte der Kirche in einer säkularen Gesellschaft.
Die Bilderfrage, ganz allgemein gesagt, ist in den letzten Jahrzehnten virulenter geworden denn je: Unsere mediale Wahrnehmung, die visuelle Kommunikation – alles hängt primär an Bildern. Wie wohl tut da dieses Grau von Richter! Wir wissen ja längst nicht mehr, ob ein Bild „echt“ ist, ob man ihm trauen soll, ob es ein Fake ist. Und dennoch werden wir von Bildern in unserer Weltdeutung, unserer Urteilsfähigkeit und unserer Sinnorientierung beeinflusst wie vielleicht nie zuvor. Wenn sich die Theologie hier nicht mit ihrem eigenen Schatz an Bildkritik und der Geschichte ihres eigenen Ikonoklasmus einbringen würde, müsste man ihre fortschreitende Marginalisierung auch auf ihren eigenen Saldo schieben. Die Gebärden von Sieg und Niederlage, die die Geschichte der Aneignung dieses Raumes für das große Kunstwerk leider auch hier begleitet haben, bedürfen auch in Zukunft der ausdeutenden Erzählung: Naturwissenschaft ist jedenfalls nicht die einzige Form, die Welt wissenschaftlich zu deuten!
Es ist dabei auch die KUNST eine entsprechende Partnerin, auch die Theologie. Gerhard Richters Doppelspiegel für ein Pendel ist hier ein so nachvollziehbarer und „evidenter“ Beitrag, den eigenen Wahrheitsanspruch – auch der Naturwissenschaft – zu relativieren. Denn auch sie ist hier, nicht nur der Kirchenraum, der Hochaltar oder der entfernte Altar, ein Zitat. Was Theologie und Kunst, ja vielleicht sogar die Naturwissenschaft verbindet, ist ein gemeinsames Interesse an der Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Dieses Kunstwerk leistet dieses Interesse mit der Erfahrung des „Schwindels“. Destabilisierung als Voraussetzung für die Erkenntnis des je Größeren.
Wenn man die eigentliche Message von Gerhard Richters „Doppelspiegel für ein Pendel“ hier in diesem Raum fruchtbar macht, dann geht es bei aller Inhaltsbefreitheit dabei doch um die Sensibilisierung von Wahrnehmung. Während wir uns als Betrachtende in den Spiegeln ins Unendliche spiegeln und dabei in der Unschärfe wahrnehmen, erinnert uns das schwingende Pendel in unmittelbarer Nähe, dass wir auf der Erde sind, auf dieser schönen, aber gefährdeten Erde, die sich, während wir uns im Schwindel fast als „tableaux vivant“ wahrnehmen, langsam dreht. Das hat meines Erachtens mit dem Ansichtig-Machen von „naturwissenschaftlicher Evidenz“, (wie es in der Beschlussvorlage hieß) nur sehr wenig zu tun.
Viel gravierender ist die SUBJEKTKRITIK, die die „grauen Spiegel“ Gerhard Richters leisten. Es ist auch eine Kritik an ideologisches Denken. Sie hindert die Betrachtenden jedoch nicht, sich als Subjekte wieder zu erinnern, sich wieder zu finden, sich als Subjekte zu formen, aller katastrophischen Weltgefühle und aller posthumanen und transhumanen Ansätze der Gegenwartsdeutung zum Trotz. Denn so, wie wir die Welt mittels Bildern derzeit wahrnehmen – die Bilder des Krieges, der rassistischen Hetze, der Flucht, der klimatischen Extremereignisse wie Hitze und Flut sind – braucht es erst recht das entschiedene Subjekt, das fähig ist, das eigene Leben schlicht auch zu ändern. Sonst wäre Kunsterfahrung Schöngeisterei. Und das fähig ist, zur weiteren Zerstörung ein klares Nein zu sagen, indem wenigstens der eigene Lebensstil sich ändert. Und das fähig ist, Widerstand gegen eine neue Verrohung zu leisten.
Der Barock, aus dem ich stamme, hat, wie anfangs erwähnt, an der Decke Bilder. Sie handeln meist vom Himmel, formal ist es jedenfalls eine entgrenzte Architektur in Form von Scheinmalerei. Destabilisierung ist auch dort ein Teil des Bildkonzepts. Insofern ist jener den grauen Doppelspiegeln gar nicht so fremd, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Geschichten des Himmels, die der Barock in meiner Heimat auf die Decke gemalt hat, glauben wir alle nicht mehr. Insofern hatte Hegel damals recht: Wir beugen auch das Knie vor ihnen nicht mehr.
Aber wenn wir nicht wieder lernen, die Sprache und den Sinn der Bilder, der historischen, wie der gegenwärtigen, für unsere eigene Weltdeutung fruchtbar zu machen, wenn wir nicht lautstark einfordern, neben der „naturwissenschaftlichen Evidenz“ auch die künstlerische und poetische nicht nur dazuzustellen, sondern auch zu deuten, dann verkümmern wir geistig – nicht nur als Subjekte, sondern auch als Gesellschaft. Das ist also der besondere Forschungsort zukünftiger Bildtheologie hier. Und er ist mehr als gesellschaftsrelevant!
Bildtheologie, in der Vermittlung des christlichen KULTURERBES derzeit in Münster gerade besonders stark, wird sich wohl auch mehr als bisher mit dem Prozess ihrer Säkularisation auseinandersetzen müssen. Denn Profanierungen, wie diese hier, werden in den nächsten Jahren vielen Kirchen blühen: In diesem Raum ist das Wort sogar in den Plural gesetzt! Oft geht es historisch schnell: So war es bei Napoleon, so war es im 2. Weltkrieg. Die so genannte „Säkularisation“ hatte nicht nur für diesen Raum enorme Konsequenzen. In ihm wurden in der Folge, von 1820 bis 1880 „kaputte Kanonen und Haubitzen repariert“19Müller, a.a.O., wie Klaus Müller erinnert, ehe er 1889 zur Schulkirche des städtischen Realgymnasiums wurde, indem er von der Stadt Münster zurückgekauft wurde.
Im Kontrast zur Waffenwerkstatt von einst ist das Angebot Gerhard Richters für den Prozess einer Profanierung beinahe als vorbildlich einzustufen: Was könnte man gegen eine Dauerreflexion dagegen haben, noch dazu in der Nähe eines Versuchs, der uns an die Grenzen unserer Wahrnehmung bringt? Wenn man die jüngste Geschichte dieser Kirche nicht kennte, könnte man ausschließlich begeistert sein!
Bildtheologie, so gesehen, muss aber auch die Trauer für einen Raum benennen, den jene empfinden, die diesen Raum als „Fanum“, also als Heiligtum, erlebt und in ihm gefeiert haben. Das ist oft zu wenig selbstverständlich.
Sie muss aber umgekehrt auch verstärkt Auskunft geben, was dieses „Heilige“ heute denn ist, das ihm da genommen wurde, nicht nur, was es in der Vergangenheit war. (Es könnte ja auch in die Kunst gewandert sein.)
Von Gerhard Richter, dem großen Skeptiker von Erkenntnis und Wahrnehmung, gibt es auch überraschende, nahezu romantische Engführungen von Religion und Kunst. So schrieb er in seinen „Notizen“ unter dem Datum 3.1.88: „Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach ‚Gott‘.“20Richter, Text, 203.
In der Forderung, das Heilige auch benennen zu können, sollte die Bildtheologie auch die anderen theologischen Disziplinen betören, dass auch sie Auskunft geben können, was etwa an einem Raum, ihrer Ausstattung und ihrer Performanz heute heilig ist – das gilt für die Kirche, wie auch für die Kunst. Als Richter 2004 eingeladen wird für „100 Artists See God“ im The Jewish Museum, San Francisco, einen Beitrag zu liefern, versieht er sein Werk mit folgender Notiz:
„Ein monochromes graues Bild, Öl auf Leinwand, in irgendeiner Größe, ist einfach die einzige mögliche Repräsentation / das einzig mögliche Bildnis von Gott. Das scheint sehr einfach, zu einfach; selbstverständlich habe ich, als ich dieses graue Bild malte, weder versucht eine Vorstellung von Gott zu schaffen, noch wäre ich fähig, ein solches Bild überhaupt zu malen.“21Ebd., 467.
Bildtheologie wird sich also immer wieder des Ikonoklasmus erinnern und dabei aber auch die falschen Götter, die falschen Priester und auch das falsche Opfergeld entlarven oder in Schwindel versetzen – ganz so, wie es dieses Kunstwerk hier tut. Vielleicht ist das auch ein Beitrag zur Toleranz bzw. zur Vermittlung zwischen den – um noch einmal an Wolfgang Ullrich zu erinnern – „unversöhnlichen Lagern zwischen der Kunstreligion und der Religion“. Am Ende ist doch die Transzendierungsfähigkeit der entscheidende Punkt und die mit ihr eingehende Erfahrung von Leben, Lebensbefähigung, Verantwortung für diese Welt, der Fähigkeit zum Verzeihen und nicht zuletzt auch von Trost.