Bildtheologie

Reinhard Hoeps

Gott sehen?

Erste Fragen der Bildtheologie

Von Gott gibt es keine treffenden Bilder. Wo von Gott die Rede ist, richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine kaum jemals umschreibbare Größe, die sich jeder Erkenntnis entzieht. Stets sieht sich die Frage nach Gott mit der nachdrücklichen Unsichtbarkeit Gottes konfrontiert. Alles Erkennen Gottes beginnt mit einem Scheitern; am Anfang der Theologie steht die Einsicht, dass Gott sich nicht sehen lässt. Insofern lässt er sich auch nicht darstellen.

Umso bemerkenswerter ist die unabsehbare Fülle von Bildern im Christentum, die auch Gott als Gegenstand der Darstellung nicht aussparen. Angesichts der Unsichtbarkeit Gottes scheinen sich solche Bilder eher der strengen Beurteilung als der aufmerksamen Betrachtung zu empfehlen: Sind sie nicht allesamt unverbindliche oder eigentlich leere Behauptungen, falscher Schein zur Irreführung, wenn nicht zur Betäubung der Sinne? Oder wäre diese Täuschung dann doch durch ein vielleicht liberales, vielleicht abgenötigtes Zugeständnis an eine gewisse menschliche Schwäche wenigstens notdürftig zu rechtfertigen – eine Konzession an den schier unüberwindlichen menschlichen Hang zur buntbildlichen Ausmalung notorisch undeutlicher Vorstellungen? Solche Bilder aus menschlicher Schwäche blieben allerdings mit dem Makel behaftet, den Reizen sinnlicher Konkretionen wider besseres Wissen den Vorzug vor Abstraktionen zu geben, die sich der alle Ausmalung überschreitenden Unvorstellbarkeit zumindest vorsichtiger nähern.

„Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen“, bittet Mose den Herrn, mit dem er auf dem Berg langwierige Verhandlungen über den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel führt (Ex 33,18). Doch selbst in seiner exklusiven Rolle des Unterhändlers bleibt Mose das Gegenüber von Angesicht zu Angesicht verwehrt, „denn kein Mensch kann mich schauen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20). Allerdings wird Mose auch nicht einfach an die visuell diffuse Anonymität der Wolke verwiesen (Ex 34,5) oder gar gleich ganz an die abstrakte Gestaltlosigkeit (Dt 4,13). Vielmehr gibt Gott sich dem Mose in einer eigentümlichen Verschränkung von Verweigerung und Erfüllung der Schauerwartung zu sehen: als Rückenansicht des Vorübergegangenen (Ex 33,23).

In dieser Szene lässt sich ein Grundmodell auch der Theologie des Bildes erkennen: Sichtbarkeit ist bei Gott nicht einfach beiläufige Begleiterscheinung alles Gegebenen, sondern tritt mit einem Anspruch eigener Art auf. Dieser Anspruch erwächst aus Gottes Überschreiten aller Sichtbarkeit, wird dadurch aber keineswegs einfach getilgt. Vielmehr bringt Gottes Unsichtbarkeit eigene Formen der Sichtbarkeit hervor. In solchen Formen sucht die Unsichtbarkeit nach Manifestationen ausgerechnet in ihrem Gegenteil, weil es auch für die Unsichtbarkeit keine prägnantere Evidenz gibt als die des Sichtbaren.

Auch der christlichen Gottesbeziehung ist das Wechselverhältnis von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit wesentlich. Zwar wird das Verlangen nach Sichtbarkeit enttäuscht, aber nicht durch schiere Unsichtbarkeit, sondern durch eine das Verlangen verstörende Sichtbarkeit. Der Anspruch der Unsichtbarkeit relativiert nicht die Sichtbarkeit, sondern problematisiert sie: Alles andere als verschämtes Zugeständnis oder ausschmückendes Beiwerk, wird das Sichtbare in Jesus Christus, im Sakrament wie auch in der Schöpfung zum ausgezeichneten Ort der anschaulichen Vergegenwärtigung dessen, der sich dem menschlichen Blick entzieht, sich gerade darin aber in seiner Gegenwart unter den Menschen zeigt.

Im Horizont dieser komplexen Verschränkung von Sichtbarkeit und Transzendenz jenseits aller Sichtbarkeit steht auch die Geschichte der christlichen Bildproduktion seit ihren Anfängen im 3. Jahrhundert. In Bildwerken wird dieser Verschränkung Ausdruck verliehen; in Bildwerken wird diese Verschränkung dann auch bedacht – und zwar in eben jenem Medium, in dem sie ausgetragen wird: im Bild. Die Bildtheologie folgt den Formen und Entwicklungen dieser Verschränkung.

Bilder verdanken die besondere Eignung als Medium christlicher Religiosität ihrem Vermögen, einerseits Dingen und Vorstellungen sichtbare Gegenwart zu verleihen und sie andererseits in Distanz zu ihrer Gegenwart zu halten. Dieses Vermögen der Bilder lässt sich am Begriff der Darstellung erläutern, der einmal den dargestellten Gegenstand meint, dann aber auch das Verfahren, mit dem der Gegenstand zur Darstellung gebracht wird. Als Darstellung ist das Bild gekennzeichnet durch die ikonische Differenz (Gottfried Boehm) zwischen seinem Thema und dem Verfahren, mit dem dieses artikuliert wird. Das Verfahren ist Methode, ein Umweg, der das Thema zeigt und es gleichzeitig der unmittelbaren Gegebenheit entzieht. Zudem bringt die Darstellung als Verfahren in das Bild eine eigene Materialität, eigene Valeurs und einen eigenen Duktus ein, die sich nicht an der Unterscheidung bestimmter Grade der Ähnlichkeit mit dem Dargestellten messen lassen. Sie erschließen sich statt dem wiedererkennenden dem sehenden Sehen (Max Imdahl).

Bilder bewerkstelligen Vergegenwärtigungen in Sichtbarkeit, wahren zugleich aber die Unerreichbarkeit des Vergegenwärtigten. Bilder artikulieren die Spannung von Visualität und Transzendenz, wie sie auch religiöse Erfahrungen prägt. Was in biblischen Texten, in Legenden und in religiösen Erfahrungszeugnissen umständlich geschildert wird, fassen Bilder in die unmittelbare Konfrontation als augenblickliches Ereignis: Die absolute Transzendenz des Dargestellten wird im schärfsten Gegensatz der sinnlichen Gegenwart ihrer visuellen Darstellung gegenübergestellt. Das Bild kultiviert und reflektiert die fundamentale Spannung zwischen Transzendenz und sinnlich-materiell gefasster Visualität als Spannung einer Darstellung, die den gegensätzlichen Zusammenhang von Transzendenz und visueller Erscheinung prägnanten Ausdruck verleiht. Das gelungene Bild Gottes manifestiert in eben dem Maße Gottes visuelle Gegenwart, wie es seine unerreichbare Transzendenz bezeugt.

Christliche Bildtraditionen haben diese Ambivalenz zu eigenen Konzepten der Darstellung ausgearbeitet. Zu ihnen gehören Inszenierungen lichthafter Erscheinung und hieratischer Geometrie, die Ausstattung unscheinbarer Reliquien, auch der schlichten Hostie, mit Gehäusen von enormer visueller Anziehungskraft, schließlich Bildfindungen zu Erzählungen aus den Büchern der Bibel, vor allem aus dem Umkreis der Passion Jesu, die den Blick auf die Stationen des Leidens und den geschundenen Körper mit seinen Wunden lenken. Die christliche Frömmigkeit hat das Spektrum des Bildwürdigen, auch des Bildmöglichen, erheblich erweitert und zuvor unbekannte Bildformen in die Kulturgeschichte eingeführt.

Die Bildproduktion im Christentum erwächst aus den Anforderungen der religiösen Praxis und beschränkt sich keineswegs auf deren schmückendes Beiwerk. Bilder dienen nicht allein der Außendarstellung, sondern in erster Linie der Selbstverständigung des Christentums: Sie fokussieren die Andacht, rücken narrative Überlieferungen in ihren heilsgeschichtlichen Zusammenhang, orientieren die Idee des Sakramentalen, verleihen der Verkündigung des Wortes Lebendigkeit und der Liturgie ihren ausdeutenden Rahmen. Auf diesen Wegen leiten die Bilder schließlich auch das theologische Nachdenken an – selbst dort, wo sich dieses Nachdenken seiner Orientierung an bildlichen Vorstellungen kaum bewusst wird.

Dieses Bewusstsein hat sich in der Theologie erst in einer Art von Rückblick nachhaltig etablieren können: Intensive Verbindungen zwischen bildlicher Vorstellung und theologischer Reflexion werden für vergangene Epochen zum Gegenstand der Forschung, seitdem für die kunst- und religionsgeschichtliche Situation der Gegenwart ein Bruch dieser Verbindungen konstatiert wird. Dieser Bruch wird in die beginnende Moderne datiert, in der auf der einen Seite die Ideale künstlerischer Autonomie das eingebürgerte – und mit ihm auch das christliche – ikonographische Repertoire verdrängen und auf der anderen Seite religiöse Vorstellungen sich zunehmend aus Konstrukten der Imagination lösen und mit dem Anspruch begrifflicher Abstraktionen und doktrinärer Aussageformen behaftet werden. Die Ausdifferenzierung zwischen religiösen und künstlerischen Sinnstiftungssystemen bedeutet eine für die Moderne signifikante Zäsur. Ob mit dieser Zäsur die Geschichte des Bildes als Leitmodell der Theologie tatsächlich an ihr Ende gekommen ist oder ob diese Geschichte von dort her allererst neue und zeitgemäße Perspektiven gewonnen hat, gehört zu den kunst- wie religionsgeschichtlichen Kernfragen, welche die Bildtheologie vorantreiben.

In der longue durée jedenfalls ist das Christentum eine Bildreligion. Bilder stellen in ihrer Fülle, ihrer Vielfalt und in ihren Funktionen eine tragende Säule des Christentums dar, sie interpretieren Texte, definieren die Liturgie und Formen der Frömmigkeit, generieren zuvor nie gekannte Ausdrucksformen, sie provozieren Fragen, die bis ins Zentrum des christlichen Glaubens reichen, und treiben theologische Auseinandersetzungen voran. Die Theologie trägt deshalb eine besondere Verantwortung für die Bilder. Im Spektrum der Wissenschaften gibt es neben der Kunstgeschichte und den Bildwissenschaften kaum eine weitere Disziplin, die von Bilderfragen so grundsätzlich in Anspruch genommen wird wie die Theologie.

Die Bildtheologie entfaltet den grundsätzlichen theologischen Anspruch der Bilder in allen Dimensionen christlicher Praxis mit deren Theorie und befragt sie kritisch. Die bildnerischen Reflexionen werden durch theologische Topoi aufgegriffen, die auf ihre Weise um die Verschränkung von Transzendenz und sinnlich-materieller Manifestation kreisen. Im Zentrum stehen der Topos der Inkarnation, von dort aus die Theologien des Wortes, des Sakramentes und der Schöpfung, in deren Perspektive die Theologiegeschichte wiederum die Bedeutung der Bilder entfaltet hat. Mit dieser Perspektive tritt im Christentum neben die reiche Bildproduktion dann auch die Bildkritik, die bis in grundsätzliche Kontroversen über die theologische Legitimation der Bilder hinabführt.

Die Bildtheologie versteht sich nicht als eine (weitere) Spezifizierung unter den theologischen Disziplinen, denn sie resultiert nicht aus einer Ausdifferenzierung der Theologie in die verschiedenen Aspekte der menschlichen Lebens- und Erkenntniswelt. Die Bildtheologie markiert vielmehr eine Querschnittsfrage der Theologie, die letztlich in der offenbarungstheologischen Grundkonstellation der Beziehung zwischen Gott und Welt verankert ist. Unter der Perspektive des Bildes ist diese Konstellation auf den Kontrast von Transzendenz und visueller Wahrnehmung zugespitzt. Der Bildtheologie kommt die Aufgabe zu, diese fundamentale bildliche Spannung von Transzendenz und Visualität als grundlegende Dimension des christlichen Glaubens in historischer, systematischer, biblischer und praktischer Hinsicht zu reflektieren und zu entfalten. Die Bildtheologie schaut dabei auch auf philosophische, kunst- und kulturwissenschaftliche Ansätze und Methoden mit dem Ziel, im Austausch mit bild- und kunstaffinen Disziplinen den Wegen bildlicher Figuration bei ihrer Vermittlung zwischen transzendenter Bedeutung und visueller Erscheinung nachzugehen.

 

Dieser Text von Reinhard Hoeps ist erschienen in einBlick Bildtheologie 2/1 (2020), 1-4.

Silke Rehberg: Verkündigung in GrünGrau (Detail), 2017, Materialcollage, ca. 47 x 74 cm, Privatbesitz.

© Silke Rehberg | © Foto: Stephan Kube

© Silke Rehberg | © Foto: Stephan Kube